TraCe Jahreskonferenz zum Thema subtile Gewalt

Die TraCe-Jahreskonferenz, die vom 19. bis 21. November 2025 in Marburg stattfand, drehte sich um ein bislang wenig beachtetes Thema: schleichende Formen von Gewalt. Was darunter zu verstehen ist und wie man sie erforscht, erfahren Sie hier im Interview mit Frau Prof. Dr. Anika Oettler.

Vortragende

TraCe-Jahreskonferenz „Beyond the Spectacle“ in Marburg, 19.–21.11.2025

TraCe / PRIF

Im Interview: Prof. Dr. Anika Oettler, Principal Investigator am  vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt geförderten Forschungszentrum „Transformations of Political Violence“ (TraCe),  Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg

Offene Aggression und exzessive Gewalt sind unmissverständlich. Was verstehen Sie unter „slow violence“?

Anika Oettler

TraCe-Jahreskonferenz „Beyond the Spectacle“ in Marburg, 19.–21.11.2025

TraCe / PRIF

Das ist genau der Punkt. Gewalt ist häufig gar nicht spektakulär, sondern eher ein Prozess der langsamen Zermürbung. Rob Nixon hat 2011 mit seinem Buch zu „slow violence“ eine Diskussion angefacht, die sich zunächst auf Umweltzerstörung und die gewaltsamen Folgen von Ressourcenextraktion bezog - etwa durch Erdölkonzerne oder Minengesellschaften. Es geht also um Gewaltformen, die über Raum und Zeit verstreut sind und denen weitgehend gleichgültig begegnet wird. Wie auch unser Konferenzprogramm zeigte, sind die Forschungen, die sich mit dem Stichwort „slow violence“ verbinden, inzwischen recht breit gefächert und reichen bis hin zur Auseinandersetzung mit postkolonialen Verhältnissen, Rassismus und der Unterdrückung von LGBTIQ+-Personen.

Wie fügt sich das Konferenzthema in das Forschungsprogramm von TraCe ein?

Bei TraCe befassen wir uns mit Transformationen politischer Gewalt. Mit dem Konzept der „slow violence“ nehmen wir Entwicklungen in einer globalisierten Welt in den Blick, die zeigen, dass es jenseits der spektakulären Kriegsgewalt, jenseits von Terroranschlägen und jenseits von direkten Gewalthandlungen auch Gewaltdynamiken gibt, in denen sich Verletzungen oft über lange Zeiträume akkumulieren und gravierende Folgen für menschliche und nicht-menschliche Lebewesen haben. Diese Entwicklungen, verstanden als politische Gewalt, werfen schwierige Fragen nach rechtlicher, politischer und moralischer Verantwortung auf. 

Wie lassen sich diese schleichenden Gewaltdynamiken erforschen?

Panel Diskussion

TraCe-Jahreskonferenz „Beyond the Spectacle“ in Marburg, 19.–21.11.2025

TraCe / PRIF

Wenn es ein Merkmal von schleichender Gewalt ist, dass sie sich unbeachtet vollzieht, so besteht ein wesentlicher methodologischer Ansatz natürlich darin, sie sichtbar zu machen. Deshalb spielen visuelle und künstlerische Mittel hier eine große Rolle. Und dies gilt sowohl dort, wo die zutiefst verkörperlichten individuellen Gewaltfolgen sichtbar gemacht werden als auch dort, wo die Makroperspektive der Veränderung von Strukturen in Zeit und Raum im Zentrum steht. Eyal Weizman hat in diesem Zusammenhang sehr eindrücklich über bildliche Evidenz und die Rekonstruktion und Modellierung von Räumen, Gewaltereignissen und sehr langfristigen Prozessen durch Luft- und Satellitenbilder, Zeitzeugenberichte und andere Daten gesprochen.

Welche Formen von schleichender Gewalt wurden auf der Konferenz besonders intensiv diskutiert?

Veranstaltungsraum mit Personen

TraCe-Jahreskonferenz „Beyond the Spectacle“ in Marburg, 19.–21.11.2025

TraCe / PRIF

Auf der Konferenz wurde vor allem das Zusammenspiel dieser schleichenden Gewalt mit anderen symbolischen, institutionellen und auch offenen Formen direkter und intendierter Gewalt intensiv diskutiert. Dabei ging es einerseits um bekanntere Formen von „slow violence“ im Zusammenhang mit Extraktivismus, Vertreibung und Krieg. Andererseits – und es fällt mir schwer, hier eine Auswahl zu treffen – ging es um weniger beachtete Formen von schleichender Gewalt. Dazu gehören etwa thermische Gewalt (d.h.: Gewaltenwirkung durch Hitze oder Kälte), die Verschleppung von Gerichtsverfahren, die Folgen von Migrationspolitik oder die Unterdrückung von Gender-Nonkonformität.

Welche Strategien zur Eindämmung der schleichenden Gewalt hat die Konferenz aufgezeigt?

TraCe-Jahreskonferenz „Beyond the Spectacle“ in Marburg, 19.–21.11.2025

TraCe-Jahreskonferenz „Beyond the Spectacle“ in Marburg, 19.–21.11.2025

TraCe / PRIF

Es wurde viel über Möglichkeiten gesprochen, mit den Folgen von schleichender Gewalt umzugehen, etwa durch die Schaffung und Stärkung von Rückzugsräumen für geflüchtete Menschen. Natascha Mueller-Hirth hat in ihrer Keynote aufgezeigt, wie Basisorganisationen in informellen Siedlungen in Nairobi mit chronischer Prekarität und den omnipräsenten Bedrohungen umgehen. Sie hat vorgeschlagen, den Blick auf innovative Praktiken der Umgestaltung von alltäglichen Verhältnissen zu richten. Nicht zuletzt ging es aber in vielen Beiträgen um die Schaffung von medialer und politischer Aufmerksamkeit, ästhetische und technische Möglichkeiten der Dokumentation von schleichender Gewalt und schließlich um die strafrechtliche Zuweisung von Schuld. 

Was ist Ihr Fazit zur Konferenz?

TraCe-Jahreskonferenz „Beyond the Spectacle“ in Marburg, 19.–21.11.2025

TraCe-Jahreskonferenz „Beyond the Spectacle“ in Marburg, 19.–21.11.2025

TraCe / PRIF

Aus meiner Sicht haben der starke Rücklauf auf unseren Call for Abstracts, die hohe Teilnehmendenzahl von 130 Personen und nicht zuletzt die regen Diskussionen gezeigt, dass wir offenbar einen Nerv getroffen haben. Es war insgesamt sehr inspirierend zu sehen, wie vielfältig die Diskussion um „slow violence“ inzwischen geworden ist. Und zugleich ist diese Diskussion nicht beliebig, sondern kreist um einige Kernaspekte: die Frage der (Un-)Sichtbarkeit von Gewalt, die Verkopplung mit weiteren Gewaltformen, die Vielfalt von Zeitlichkeiten im Erleben von Gewalterfahrungen, die Räumlichkeit von Zerstörung und schließlich die Frage der Verantwortlichkeit. Die Konferenz hat mit zwei Keynotes, einem Dialogpanel und acht Panels mit Kurzvorträgen einen beeindruckenden geographischen und thematischen Bogen um ein Konzept gespannt, das für die Erforschung von Ursachen und Wirkungen von politischer Gewalt in einer interdependenten und komplexen Welt immer wichtiger wird.

Herzlichen Dank für Ihre Einschätzung und Einblicke!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 24. November 2025; Fragen: Katrin Schlotter)

Hier geht’s zum TraCe-Konferenzbericht und zur Mitschnitt des Dialogpanels auf YouTube.

Regionales Forschungszentrum „Transformations of Political Violence“ (TraCe)

Digitalisierung, Klimawandel, Globalisierung: Das Forschungszentrum „Transformations of Political Violence“ (TraCe) untersucht, ob und wie sich politische Gewalt angesichts aktueller globaler Entwicklungen verändert. Ziel des hessischen Verbundes ist es, durch multiperspektivische Forschung Bedingungen für innergesellschaftlichen und internationalen Frieden zu identifizieren und Strategien zur Eindämmung politischer Gewalt zu entwickeln. TraCe wird seit April 2022 vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung gefördert. Neben PRIF sind die Goethe-Universität Frankfurt, die Justus-Liebig-Universität Gießen, die Philipps-Universität Marburg und die Technische Universität Darmstadt beteiligt.

Wissenschaftliche Koordination: Dr. Annika Elena Poppe, Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF)

Vierte TraCe Jahreskonferenz

Die TraCe-Jahreskonferenz 2025 „Beyond the Spectacle: Interdisciplinary Approaches to Slow Violence and Political Harm“ in Marburg zielte darauf ab, die Forschung zu Gewalt und ihrer Transformationen zu vertiefen (siehe Programm). Eröffnet wurde die dreitägige Konferenz von einem deutschsprachigen Dialogpanel am Mittwoch, 19. November um 18 Uhr zum Thema „Gewalt in Zeitlupe: Fehlende Aufmerksamkeit für schleichende Zerstörung“. Am Donnerstag und Freitag umfasste die englischsprachige Konferenz insgesamt acht Panels mit mehr als vierzig Beitragenden und zwei Keynotes von Natascha Mueller-Hirth (Robert Gordon University) und Eyal Weizman (Forensic Architecture). Organisiert wurde sie von Felix Anderl, Kristine Andra Avram, Thorsten Bonacker, Anika Oettler und Mariel Reiss (alle Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg).

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