Kein Frieden ohne Konflikt? Bayerisches Netzwerk erforscht die Rolle von Deutungskämpfen in Gesellschaften weltweit

Im Interview: Dr. Jan Sändig, Co-Koordinator des Regionalclusters „Deutungskämpfe im Übergang“ an der Universität Bayreuth

Woekshopteilnehmer an Tischen mit Laptops

Auftaktworkshop "Deutungskämpfe im Übergang", Universität Bayreuth, 21.-23.6.2023

k.A.

Im BMBF-geförderten Forschungsverbund „Deutungskämpfe im Übergang“ (Conflicts.Meanings.Transitions) arbeiten seit April 2022 Forschende der Universitäten Augsburg, Bayreuth und Erlangen-Nürnberg sowie des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin (IfZ) zusammen. Das Netzwerk soll die regionalen Forschungsstandorte in einem Bayerischen Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung (BZeFK) zusammenführen.

Im Verbund erforschen Sie gesellschaftliche und politische Wandlungsprozesse und damit verbundene Auseinandersetzungen. Wie diese Auseinandersetzungen verlaufen, ist wesentlich für den gesellschaftlichen Frieden in der Gegenwart und Zukunft. Warum ist das so, Herr Dr. Sändig? Hätten Sie ein aktuelles Beispiel?

Jan Sändig

Dr. Jan Sändig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie Afrikas (Universität Bayreuth) und Co-Koordinator von „Deutungskämpfe im Übergang.“

Bianca Evers

Die „Zeitenwende“, der Aufstand der Letzten Generation oder der Streit um den Genderstern – wir alle sind umgeben von jenen Auseinandersetzungen, die unser Verbund als „Deutungskämpfe im Übergang“ bezeichnet. Zentral ist dabei, dass Menschen bestehende Normen und Werte infrage stellen, um Veränderung herbeizuführen. Dabei geraten sie in Konflikte, insbesondere mit jenen, die „alles beim Alten“ belassen wollen.
Bei den genannten Beispielen wird deutlich, dass Deutungskämpfe oft mit harten Mitteln ausgetragen werden – dazu zählen Anfeindungen, Protestaktionen und gar gewaltsame Angriffe. Dies kann den gesellschaftlichen Frieden herausfordern. Wir betrachten Frieden dabei aber als einen Prozess: In Deutungskämpfen werden Positionen neu ausgehandelt, was gesellschaftlichen Frieden erzeugen, erneuern und konsolidieren kann. Die entscheidende Frage ist daher, unter welchen Bedingungen Deutungskämpfe konstruktiv verlaufen und Friedenspotenzial entfalten, oder sich aber destruktive Logiken entspinnen.

Mit Ihren Forschungen thematisieren Sie drängende gesellschaftliche Herausforderungen unserer Zeit. Könnten Sie die Forschungsschwerpunkte skizzieren?

Unser Verbund fokussiert drei Bereiche, die uns besonders relevant erscheinen, um Deutungskämpfe und ihre Folgen zu verstehen. Wir untersuchen erstens die Friedensstrategien nicht-staatlicher Gruppen, darunter Menschenrechtsorganisationen, religiöse Akteure und Unternehmen. Zweitens befassen wir uns mit Gewalt, sowohl hinsichtlich ihrer Formen als auch Rechtfertigung. Drittens betrachten wir universale Rechte und Diversität, die beide Gegenstand hitziger gesellschaftlicher Debatten sind.

In acht inhaltlichen Unterprojekten untersuchen unsere Forschenden Ausschnitte aus verschiedenen Weltregionen und Phasen der jüngeren Geschichte. Die Fallstudien reichen von den Fränkischen Freicorps in der Weimarer Republik über die Rolle der Nürnberger Prozesse für die Demokratisierung Argentiniens (1980er Jahre) bis zum Völkermord an den Jesiden unter der Herrschaft des „Islamischen Staates“ im Irak. Wir bewegen uns dabei an der Schnittstelle von Sozial- und Geschichtswissenschaften. So haben wir zum einen das nötige Instrumentarium, um Konflikte und Wandlungsprozesse zu erheben. Zum anderen sehen wir an dieser Schnittstelle besonderen Forschungsbedarf in der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland.

Ende Juni haben Sie zum dreitägigen Auftaktworkshop Ihres Verbundes eingeladen. Worum ging es und was fanden Sie besonders spannend?

Bei unserem Auftaktworkshop haben wir uns unter dem Titel „All things change the same?“ vor allem mit den Übergängen beschäftigt. Dafür haben wir inspirierende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Bereiche der Friedens- und Konfliktforschung nach Bayreuth eingeladen. Darunter auch Forschende der BMBF-Verbünde Transformations of Political Violence (TraCe) und Postcolonial Hierarchies.

Für mich ist die zentrale Erkenntnis aus den Vorträgen und Diskussionen, wie komplex solche Prozesse des Wandels verlaufen. Selten lässt sich ein Ausgangs- und Zielpunkt klar bestimmen und ein linearer Verlauf nachzeichnen. Vielmehr sollten wir von fluiden Vorgängen mit sehr unterschiedlichen Dynamiken ausgehen, darunter Phasen gradueller Veränderung, aber auch Disruption oder Rückschritten. Bei der zeitlichen Abgrenzung tauchen auch immer wieder Zweifel auf: Gehen die Entwicklungen nicht viel weiter zurück als angenommen, und wann ist ein Wandlungsprozess abgeschlossen? Neben unserer empirischen Arbeit geht es eben auch um die breiteren, konzeptionellen Fragen, wie Wandel und darin die Deutungskämpfe zu verstehen sind.

Und welche weiteren Veranstaltungen und Initiativen stehen auf Ihrer Agenda?

Wir veranstalten regelmäßige Aktivitäten, um Wissen öffentlich zugänglich zu machen. Dafür haben wir die Bayreuther Friedensgespräche gegründet, bei der Rednerinnen und Redner aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft meist zu aktuellen Themen referieren. In der Friedensstadt Augsburg beteiligen sich unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Transferformaten, darunter die Peace Summer School und postkoloniale Interventionen in der Stadt.

Darüber hinaus zielen unsere Aktivitäten auf die Vernetzung in der Region. Dazu dienen vor allem Workshops, sowohl mit etablierten als auch jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Wir bauen zudem Kontakte in die Politik auf, um Wissen bereitzustellen und politische Unterstützung zu mobilisieren. Über diese Initiativen soll sich perspektivisch ein regionaler Forschungsschwerpunkt entwickeln – ein Bayerisches Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung.

Besten Dank für das Interview, lieber Herr Dr. Sändig!


(Das Interview erfolgte schriftlich am 19. Juli 2023, Fragen: Katrin Schlotter)

 

„Deutungskämpfe im Übergang“ – Bayerisches Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung

Der BMBF-geförderte Forschungsverbund „Deutungskämpfe im Übergang“ vernetzt die regionalen Standorte der Friedens- und Konfliktforschung in Bayern zu einem interdisziplinären Bayerischen Zentrum für Friedensforschung. Das Projektdesign dieses Forschungsverbunds zielt einerseits unter einer geschichtswissenschaftlichen Profilbildung auf die vergleichende Analyse unterschiedlicher Deutungskämpfe entlang der Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen Deutungskämpfe zum Frieden beitragen, und andererseits auf wirkungsvolle Transfer- und Kommunikationsformate für Multiplikatoren, regionale Öffentlichkeiten und die Politikberatung. Deutungskämpfe im Übergang (Conflicts.Meanings.Transitions) ist ein gemeinschaftliches Projekt von Forschenden der Universitäten Augsburg, Bayreuth und Erlangen-Nürnberg sowie des Instituts für Zeitgeschichte München−Berlin, koordiniert an der Universität Bayreuth.

Die BMBF-Förderlinie „Stärkung- und Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung“

Mit der BMBF-Förderlinie „Stärkung- und Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung“, Bundesanzeiger vom 03.09.2020 fördert das BMBF seit April 2022 zehn Verbünde mit 30 Mio. Euro. Damit trägt das BMBF dazu bei, dass Politik und Gesellschaft internationalen Entwicklungen auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse angemessen begegnen können.

Gefördert werden sieben Kompetenznetze und drei Regionale Zentren. In beiden Förderformaten kommt der Vernetzung eine herausragende Bedeutung zu. In den Kompetenznetzen schließen sich kleinere, regional verstreute Akteure mit ähnlichen Forschungsschwerpunkten zusammen, um gemeinsam zu Zukunftsfragen aus dem Feld der Friedens- und Konfliktforschung zu forschen. Dabei kommen neben geistes- und sozialwissenschaftlichen auch naturwissenschaftliche Methoden zum Einsatz. Die Kompetenznetze positionieren sich zudem als Akteure im Bereich Wissenstransfer und entwickeln Beratungs- bzw. Informationsangebote für Politik und Gesellschaft. Die Regionalen Zentren sollen sich als Zusammenschlüsse von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen einer Region zu „Leuchttürmen“ der deutschen Friedens- und Konfliktforschung entwickeln. Sie haben die Aufgabe, im Rahmen gemeinsamer Forschungs- und Transfervorhaben die Interdisziplinarität und den Methodenpluralismus des Forschungsfeldes zu stärken und über entsprechende Kooperationen die Internationalisierung der Friedens- und Konfliktforschung voranzutreiben.

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