Forschung gegen Antisemitismus: Neue Impulse aus der Wissenschaft

Die Abschlussveranstaltung der BMFTR-Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus (2021-2025)“ und der Fachtag „Antisemitismuskritische Bildung“ zogen Bilanz aus vier Jahren wissenschaftlicher Arbeit – auch mit Blick auf die neue Förderlinie.

Alle Forschenden des Forschungsnetzwerks Antisemitismus im 21. Jahrhundert (FoNA21) auf einem Gruppenfoto

Ein seltener Anblick: Alle Forschenden des Forschungsnetzwerks Antisemitismus im 21. Jahrhundert (FoNA21) auf einem Gruppenfoto.

Pavel Konrad

Das Ausmaß des Israel- und Judenhasses wird immer dramatischer: Alleine in Nordrhein-Westfalen erfasste die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) im unlängst veröffentlichtem NRW-Jahresbericht 2024 940 antisemitische Vorfälle, 42 % mehr im Vergleich zum Vorjahr (664) – und das sind nur die gemeldeten Vorfälle. Die Zahl der tatsächlichen Vorfälle, im sogenannten Dunkelfeld, dürfte noch deutlich höher liegen.

Umso wichtiger ist es, die Antisemitismusforschung voranzutreiben und durch interdisziplinäre Forschung profundes Wissen über die Hintergründe, Dynamiken und Formen von Antisemitismus zu generieren und zu verbreiten. Denn: Fundiertes Wissen und Engagement sind die Basis im Kampf gegen Antisemitismus.

Forschung mit Wirkung

Die wachsende Bedrohung unserer Gesellschaft durch Antisemitismus haben zehn Forschungsverbünde in der BMFTR-Förderrichtlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus (2021-2025)“ erforscht. Um Forschungsergebnisse in die Gesellschaft, die Praxis und in politische Handlungsfelder zu bringen, waren Akteure aus der Praxis beteiligt. Die Forschungen werden durch das wissenschaftliche Begleitvorhaben „Forschungsnetzwerk Antisemitismus im 21. Jahrhundert (FoNA21) vernetzt und weiterhin der wissenschaftlichen wie auch breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die Ergebnisse der ersten Förderrichtlinie können sich sehen lassen: In vier Jahren entstanden mehr als 225 Publikationen, 372 Vorträge und 82 Fachveranstaltungen. Die Projekte haben u.a. Unterrichtsmaterialien für die Vermittlung jüdischen Alltagslebens erstellt, Handlungsempfehlungen für den juristischen Umgang mit antisemitischen Vorfällen und Empfehlungen für die antisemitismuskritische Lehrerbildung entwickelt sowie Coachings gegen Judenhass im Internet erarbeitet, erprobt und evaluiert, um nur einige Ergebnisse zu nennen. Dank des hohen Praxisbezugs helfen die Projekte sowohl der Politik als auch der Gesellschaft dabei, auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse die Ursachen und Auswirken von Antisemitismus besser zu verstehen – und ihnen wirkungsvoll entgegenzutreten. Alle Informationen zu Projektverbünden und ihren Ergebnissen finden Sie über die FoNA21-Website.

Gut vernetzt: Abschlusstagung in Berlin

Podiumsgespräch der Abschlussveranstaltung der BMFTR-Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus

Zeit, Bilanz zu ziehen: Podiumsgespräch der Abschlussveranstaltung der BMFTR-Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus (2021-2025) am 5. Mai 2025 in Berlin: Prof. Dr. Raphael Gross (Präsident des Deutschen Historischen Museums), Prof. Dr. Sabine Achour (Freie Universität Berlin, Mitglied im Beirat der Förderrichtlinie), die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau und Oberstaatsanwalt Dr. Florian Hengst (Antisemitismusbeauftragter der Generalstaatsanwaltschaft Berlin) (v.l.n.r.).

Am 5. Mai 2025 beging die BMFTR-Förderrichtlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus (2021-2025)“ ihren Abschluss in der Berliner Geschäftsstelle der Leibniz-Gemeinschaft. Forschende und Akteure aus Politik, Zivilgesellschaft und Fachpraxis kamen zusammen, um sich über neue Erkenntnisse und Perspektiven von vier Jahren interdisziplinärer Forschung auszutauschen. Diskutiert wurden Chancen, Herausforderungen und Möglichkeiten der Antisemitismusforschung und die Erfordernisse von Politik und Praxis zur Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus (siehe Programm). An der Abschlusstagung nahmen rund 140 geladene Gäste teil. Durch die Veranstaltung führte die Autorin und Journalistin Shelly Kupferberg.

In seinem Grußwort unterstrich der ehemalige BMFTR-Staatssekretär Dr. Karl Eugen Huthmacher die zentrale Rolle der Wissenschaft im Kampf gegen Antisemitismus. In der ersten Förderrichtlinie sei es gelungen, Grundlagenforschung mit angewandter Forschung zu verbinden und wissenschaftliche Erkenntnisse für Politik und Gesellschaft zu übersetzen. Er betonte die Perspektive der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, deren Erfahrungen – nicht zuletzt seit den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 – mit neuer Dringlichkeit in den Mittelpunkt rückten. Angesichts steigender antisemitischer Tendenzen in der Gesellschaft sei es unerlässlich, die Forschungsarbeit fortzusetzen. Das Forschungsministerium habe deshalb eine weitere Förderlinie zur Antisemitismusforschung auf den Weg gebracht (dazu später mehr).

Der Leiter der Bildungsabteilung des Zentralrates der Juden in Deutschland, Prof. Dr. Doron Kiesel, legte in seinem Grußwort die Erfahrungen jüdischen Lebens in Deutschland dar. Er unterstrich die Bedeutung stetiger Austauschformate in Deutschland sowie die Notwendigkeit der Einbindung jüdischer Perspektiven in die Forschung: „Der Zentralrat der Juden hat weiterhin ein tiefes Vertrauen in die Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik Deutschland und ich versichere ihnen, im Zentralrat der Juden einen verlässlichen Partner für eine intensive wissenschaftliche Zusammenarbeit vorzufinden. Wir möchten Sie jedoch auffordern in ihr Forschungsdesign die jüdische Stimme, die jüdischen Erfahrungen und Verarbeitungsmuster einzubeziehen, da ansonsten die Gefahr besteht, dass die Gruppe der Leidtragenden unter den bestehenden Verhältnissen unbeachtet bleibt und ein sicherlich anspruchsvolles wissenschaftliches Selbstgespräch im Vordergrund steht.“

Erstmalig wurde den Gästen aus Politik, Wissenschaft, Justiz und Zivilgesellschaft ein Film gezeigt, der die Ergebnisse der ersten Förderlinie präsentiert (siehe FoNA21-Website). Im anschließenden Podiumsgespräch diskutierten Prof. Dr. Sabine Achour (Freie Universität Berlin), Prof. Dr. Raphael Gross (Präsident des Deutschen Historischen Museums Berlin), Oberstaatsanwalt Dr. Florian Hengst (Antisemitismusbeauftragter der Generalstaatsanwaltschaft Berlin) und die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau die verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfelder, in denen Antisemitismus sichtbar und wirksam bekämpft werden muss – von Bildung über Kultur und Justiz bis zur Politik. Einen Video-Mitschnitt der gesamten Abschlussveranstaltung finden Sie hier.

FoNa21-Fachtag: Antisemitismuskritische Bildung - Perspektiven der Forschung

FoNa21-Fachtag am 6. Mai 2025 in Berlin

FoNa21-Fachtag am 6. Mai 2025 in Berlin: Antisemitismuskritische Bildung - Perspektiven der Forschung

Geht es um konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus, rückt der Bildungssektor in den Fokus. Wie kann eine antisemitismuskritische Bildung gelingen? Wo sollte sie ansetzen? Welche Methoden und Materialien stehen zur Verfügung? Welche Anforderungen und Herausforderungen gilt es zu berücksichtigen?

Diese Fragen standen beim Fachtag am 6. Mai 2025 in Berlin im Fokus – einer FoNa21-Veranstaltung in Zusammenarbeit mit den Verbundprojekten Antisemitismus in pädagogischen Kontexten (RelcoDiff); Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus (ChriSzA); Jüdische Alltagskultur in Deutschland vermitteln (Alltagskultur) und EMPATHIA³ (Empowering Policeofficers and Teachers in arguing against antisemitism). Mehr als 80 Personen nahmen an der nichtöffentlichen Veranstaltung in der Berliner Geschäftsstelle der Leibniz-Gemeinschaft teil.

Präsentiert und diskutiert wurden Untersuchungsansätze, Forschungsergebnisse und Handlungsempfehlungen aus den Projekten der ersten Antisemitismusförderlinie (siehe Programm) – angefangen von der Bildung in den pädagogischen Kontexten Kita, Schule und Unterricht über die Rolle von Jüdinnen und Juden in Bildungsmedien bishin zur den Desideraten der antisemitismuskritischen Bildung. Beteiligt an den Diskussionen waren auch hier Akteure aus der Praxis, etwa vom Klett Schulbuchverlag oder von der Beratungsstelle zu Antisemitismus an Hochschulen in NRW.

Neue BMFTR-Förderlinie: Vertiefte Antisemitismusforschung

Seit 2021 fördert das (ehemals) BMBF Projekte der Antisemitismusforschung mit 12 Millionen Euro. Dieses Engagement wird nun in gleicher Höhe in einer weiteren Förderphase fortgesetzt. Die Förderrichtlinie ist im Dezember 2024 erschienen (Bekanntmachung: Richtlinie zur Förderung von Forschungsprojekten zum Thema „Ursachen und Dynamiken des aktuellen Antisemitismus“, Bundesanzeiger vom 16.12.2024). Die ersten Projekte werden voraussichtlich um das Jahresende 2025 bzw. den Jahresbeginn 2026 starten.

Ziel der Förderrichtlinie ist, die Wissensbasis und das Verständnis zum Phänomenbereich „Antisemitismus“ in seinen aktuellen Ausprägungen, insbesondere mit Blick auf den israelbezogenen und oft über die sozialen Medien geschürten Antisemitismus, weiter zu vertiefen. Zudem soll jüdisches Leben als selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft noch sichtbarer gemacht und unterstützt werden. Dazu soll sowohl die Grundlagen- als auch die anwendungsorientierte Forschung weiter gestärkt werden. Weitere Ziele sind die stärkere Verankerung der Antisemitismusforschung an Hochschulen, Hochschulen für angewandte Wissenschaft und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Die Antisemitismusforschung in Deutschland und Europa soll stärker strukturell vernetzt werden. All das verbunden durch das gemeinsame Ziel: Erkenntnisse aus der Antisemitismusforschung noch gezielter in Bildung, Politik und Gesellschaft zu bringen.

BMFTR-Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus (2021-2025)

Rund 12 Millionen Euro hat das BMFTR für die Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus (2021-2025) bereitgestellt. Im Fokus stehen sowohl die Grundlagen- als auch die anwendungsorientierte Forschung zum Antisemitismus in Deutschland und Europa. Der Transfer zwischen Forschung und Praxis und die Einbeziehung jüdischer Perspektiven nimmt dabei eine tragende Rolle ein. Die Förderlinie ist Teil des Rahmenprogramms für die Geistes- und Sozialwissenschaften „Gesellschaft verstehen – Zukunft gestalten“ (2019 bis 2025) und zugleich Teil der umfangreichen Förderung des BMFTR gegen Extremismus und Radikalisierung (siehe Box). Mit dieser Forschung werden die Säulen der demokratischen Gesellschaft gestärkt.

Extremismus und Radikalisierungsforschung 

Im BMFTR-Rahmenprogramm für die Geistes- und Sozialwissenschaften (2019 – 2025) „Gesellschaft verstehen – Zukunft gestalten“ nimmt die Extremismus und Radikalisierungsforschung eine zentrale Rolle ein. Das BMFTR hat dafür mehrere Förderlinien auf den Weg gebracht: Ziel ist es, durch interdisziplinäre Forschung mehr Wissen über die vielfältigen Hintergründe, Dynamiken und Formen von Gewalt und Extremismus zu erlangen, die unser Zusammenleben gefährden. Dazu zählen Antisemitismus, Rechtsextremismus, Rassismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und radikaler Islamismus in Deutschland und Europa.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Rassismus / Extremismus

Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa

Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus

Förderungen im Bereich der Rechtsextremismus- und Rassismusforschung

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