Die Geheimnisse der Rollsiegel: Wie die Digitalisierung dabei hilft, altorientalische Bilderwelten zu entschlüsseln

Wenn Forschende und kulturelle Artefakte in aller Welt zerstreut sind, helfen vor allem Digitalisierung, Vernetzung und Open Access. Welche Potenziale damit gehoben werden können, zeigt das eHeritage Projekt „Annotiertes Korpus vorderasiatischer Bildwerke: Rollsiegel (ACAWAI-CS)“.

Roll- und Stempelsiegel in der Staatlichen Münzsammlung, München

Roll- und Stempelsiegel in der Staatlichen Münzsammlung, München

Elisa Roßberger

Gut dreitausend Jahre lang, vom späten 4. bis 1. Jahrtausend v. Chr., waren Rollsiegel in den bronze- und eisenzeitlichen Kulturen Westasiens weit verbreitet. Die Kerngebiete ihrer Verwendung lagen im heutigen Irak und Syrien, ebenso im Iran, Anatolien und der Levante. Rollsiegel sind kleine Zylinder aus Stein oder Fritte, auf denen komplexe Bildfolgen mit Darstellungen von Göttern, Menschen, Tieren, Artefakten und Symbolen eingeschnitten waren.

Projektleiterin Prof. Dr. Elisa Roßberger

Projektleiterin Prof. Dr. Elisa Roßberger mit Rollsiegel-Sammlung des Instituts für Vorderasiatische Archäologie der FU Berlin, 26.07.23

Rolf Brockschmidt

Ende Juli 2023 kamen 25 Forschende und zahlreiche interessierte Zuhörende aus aller Welt an der Freien Universität Berlin zur Tagung „Ancient West Asian Seals and Sealings“ zusammen – und tauschten sich darüber aus, wie Jahrtausende alte Rollsiegel und gesiegelten Tonartefakte am besten erforscht und digital zugänglich gemacht werden können. Veranstaltet wurde die internationale Tagung vom ACAWAI-CS Projekt. Es wird seit 2020 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie eHeritage gefördert und seine Forschungsarbeiten im Oktober 2023 abschließen.

Das Projekt annotiert und vernetzt erstmals Rollsiegel und gesiegelte Tonartefakte aus drei Jahrtausenden Kulturgeschichte des antiken Westasiens für das Semantic Web, das Inhalte mit maschinenlesbaren, semantischen Metadaten anreichert und miteinander verbindet. In der dreijährigen Projektlaufzeit haben die Forschenden rund 20.000 Rollsiegel bzw. Siegelabrollungen digital erschlossen. „Jetzt können sie ihr volles Potenzial in der internationalen kultur- und altertumswissenschaftlichen Forschung entfalten. Sie stehen der universitären Lehre sowie der interessierten Öffentlichkeit für systematische Untersuchungen online und open access zur Verfügung“, sagt Projektleiterin Prof. Dr. Elisa Roßberger, Institut für Vorderasiatische Archäologie an der FU Berlin. Zu finden sind sie demnächst unter: www.acawai.org

Rollsiegel: „altorientalische Bilderwelt in Miniatur“

Rollsiegel und Abrollung vom Fundort Ur, Irak, ca. 2100 v. Chr

Neuassyrisches Rollsiegel mit moderner Abrollung in der Sammlung der Freien Universität Berlin.

Rolf Brockschmidt

„Rollsiegel sind Personen- oder Institutionen-gebundene Artefakte, die zu administrativen und juristischen Zwecken auf Keilschrifttafeln und Tonverschlüssen abgerollt wurden. Je nach Zeit und Region, tragen viele kurze Inschriften oder lassen sich anhand ihrer Verwendung als „Unterschriften“ auf Tontafeln bestimmten Personen zuordnen. Siegel und deren Abrollungen auf Ton repräsentieren einen Großteil des überlieferten Bildbestandes aus der Region. Ihre Gesamtzahl beläuft sich nach einer groben Schätzung auf mehr als hunderttausend Bilder – ein gigantisches Netzwerk aus Bildern und Menschen, die bisher nicht oder nur sehr eingeschränkt miteinander in Verbindung gebracht werden konnten“, erläutert Roßberger.

Rollsiegel mit großem Forschungspotenzial

Tontafel-Hülle mit drei Siegelabrollungen aus dem altbabylonischen Ishchali (Irak, 20.-19. Jh. v. Chr.)

Tontafel-Hülle mit drei Siegelabrollungen aus dem altbabylonischen Ishchali (Irak, 20.-19. Jh. v. Chr.)

Paola Paoletti

„Rollsiegel bieten einen einzigartigen Zugang zu verschiedenen Personengruppen und deren soziale, politische, religiöse und (inter-)kulturelle Verflechtungen. Dennoch waren sie bisher nur wenigen zugänglich bzw. verständlich“, erklärt Roßberger. Dies liegt zum einen an der disparaten und heterogenen, fast ausschließlich analogen Publikationslage, zum anderen an der Fülle und Komplexität der Denkmalgruppe selbst, die, ohne den Einsatz digitaler Mittel, weder zu überblicken, noch auszuwerten ist. „Deshalb werden bis heute bildliche und inschriftliche Anteile eines Siegels oder einer Siegelung meist disziplinär getrennt voneinander bearbeitet und publiziert, oftmals mit Jahrzehnten Abstand. Einen signifikanten wissenschaftlichen Austausch gab es daher nicht“, so Roßberger. Dank der Fortschritte der letzten Jahrzehnte bei der Digitalisierung, Codierung und algorithmischen Auswertung großer Bild- und Text-Datenbestände, ist es nun möglich, die Bestände zu erschließen und zugänglich machen. Damit sind sie für zukünftige, interdisziplinär angelegte Forschungen sichtbar und für komparatistische, kultur- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen verständlich und  auswertbar. „Kulturgüter sind oft gefährdet und in Museen und Sammlungen nur eingeschränkt zugänglich. Der internationale wissenschaftliche Austausch ist, wie auch unsere Siegel-Tagung gezeigt hat, von großer Bedeutung, um das Wissen um diese Objekte und ihre Aussagekraft zur Rekonstruktion der Geschichte der Menschheit lebendig zu halten“, betont Roßberger, die auch schon das Vorgängerprojekt „Digitalisierung und Verschlagwortung altorientalischer Roll- und Stempelsiegel-Glyptik (DigANES) (eHeritage Förderlinie I von 2016) geleitet hat.

Digital und annotiert

ACAWAI-CS Projekt

Annotated Corpus of Ancient West Asian Imagery: Cylinder Seals" (ACAWAI-CS)

Ausgehend von den Beständen des Münchner Instituts für Vorderasiatische Archäologie und den dortigen Forschungsarbeiten zur vorderasiatischen Glyptik, haben die ACAWAI-Forschenden zum einen bisher nur analog vorliegende Katalogabbildungen und -daten digitalisiert. Zum anderen haben sie bereits verfügbare Digitalisate aus Museen oder Sammlungen mit objekt- und bildbezogenen Metadaten angereichert. „Die Digitalisate sind fachlich so tief und kohärent erschlossen, dass eine sinnvolle, auch quantitative Auswertung mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung möglich ist“, sagt Roßberger und ergänzt: „Somit sind sie von Anfang an Teil eines stetig wachsenden Pools digitaler Ressourcen zu materiellen, visuellen und textuellen Zeugnissen der Kulturen Westasiens. Zudem erproben wir den Einsatz von Machine Learning- zur automatisierten Aufnahme und Erschließung weiterer Sammlungen“.

Nach vielen vergeblichen Versuchen, die „altorientalische Bilderwelt in Miniatur“ durch Formalisierung und Computerisierung zu erschließen, kann nun das große statistische und kulturhistorische Potential der Denkmalgruppe genutzt werden. ACAWAI-CS ermöglicht erstmals systematische Vergleiche umfangreicher und heterogen publizierter Siegel-Korpora, etwa in Museumsbeständen, Grabungsberichten oder Einzelpublikationen. Zudem erlaubt es, verlässliche quantitative Erhebungen zur Entstehung und Verbreitung von Bildmotiven sowie strukturelle Analysen für ein besseres Verständnis von Bildsyntax und semantischem Gehalt von Motivkombinationen früheren Hypothesen gegenüberzustellen. So wird es der internationalen Wissenschaftscommunity gelingen, neues Licht in diese faszinierende Bilderwelt zu bringen.

Autorin: Katrin Schlotter

„Annotiertes Korpus vorderasiatischer Bildwerke: Rollsiegel (ACAWAI-CS)“

Das ACAWAI-CS Projekt annotiert und vernetzt erstmals westasiatische Rollsiegel und gesiegelte Tonartefakte aus drei Jahrtausenden für das Semantic Web. Das BMBF-Projekt der Förderlinie eHeritage war an drei Institution beheimatet: Zunächst an der Ludwig-Maximilians-Universität München (11/2020–9/2021), dann an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (10/2021–9/2022) und ab Oktober 2022 bis zum Projektende im Oktober 2023 an der Freien Universität Berlin. Geleitet wird es von Prof. Dr. Elisa Roßberger, Institut für Vorderasiatische Archäologie an der FU Berlin.

Was ist das Semantic Web?

Das Semantic Web bezeichnet die nächste Entwicklungsstufe des World Wide Web, das Informationen nicht nur verknüpft, sondern Webinhalte mit maschinenlesbaren, semantischen Metadaten angereichert und miteinander verbindet. Ziel ist, den Informationsaustausch im Web zu optimieren, indem Maschinen maschinenlesbare Bedeutungen, also semantische Inhalte, unterscheiden und gezielt verarbeiten.

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