POMIKU: „Postmigrantische Familienkulturen“ in der Lenzsiedlung – Einblicke in die Migrationsforschung

Wie leben unterschiedliche Kulturen in der Lenzsiedlung in Hamburg-Eimsbüttel zusammen? Wie vielfältig ist das Familienleben? Und wie beeinflussen und verändern sich Familienkulturen gegenseitig? Das BMBF-Verbundprojekt „Postmigrantische Familienkulturen“ (POMIKU) hat erforscht, was „Familie-sein“ in der Lenzsiedlung bedeutet – und im März bei der Abschlusstagung erste Ergebnisse präsentiert.

Geht es um das Thema Zuwanderung, wird oft über Probleme und einseitige Anpassungsleistungen geredet. Aber es geht auch anders. „Neuere Zugänge, insbesondere der „postmigrantische“ Ansatz der Migrationsforschung, verstehen Zuwanderung als gesamtgesellschaftliche Leistung, die sich auf migrantische Lebensrealitäten und die damit verbundenen Ressourcen richtet“, betont Dr. Astrid Wonneberger, Ethnologin und POMIKU-Projektkoordinatorin.

Was den postmigrantischen Ansatz ausmacht, zeigt das interdisziplinäre POMIKU-Verbundprojekt, das von Juli 2018 bis September 2022 im Rahmen der BMBF-Förderlinie „Migration und gesellschaftlicher Wandel“ gefördert wird. Forschende vom Studiengang Angewandte Familienwissenschaften am Department Soziale Arbeit der HAW Hamburg und dem Institut für Germanistik der Universität Hamburg haben zusammen mit dem Verein Lenzsiedlung e.V. untersucht, was „Familie-sein“ in der Lenzsiedlung in Hamburg-Eimsbüttel ausmacht. Dazu wurde ein Ansatz von Aktivierung und Partizipation der BewohnerInnen der Großwohnsiedlung gewählt.

Einsichten in das Alltags- und Familienleben

Prof. Dr. Katja Weidtmann

Prof. Dr. Katja Weidtmann, Psychologin und Gesamtprojektleitung

HAW Hamburg

„Familiäres (Zusammen-)Leben ist stark kulturell geprägt. Familienkulturen kommen miteinander in Berührung, beeinflussen sich gegenseitig und verändern sich dadurch“, erläutert die Projektleiterin Prof. Dr. Katja Weidtmann. Wie unter einem Brennglas lässt sich in der Lenzsiedlung die jüngere Sozial- und Migrationsgeschichte in Deutschland ablesen. Die Hamburger Großsiedlung aus den 1970er Jahren ist dafür ein sehr geeigneter Ort, denn in den knapp 1300 Haushalten leben über 2500 BewohnerInnen aus mehr als 60 Nationen. Über 70 Prozent haben einen Migrationshintergrund.

Im Fokus der Forschungen standen die Familienkulturen und die Alltagsgestaltung in der Lenzsiedlung, genauer gesagt, wie sich unterschiedliche Formen der Familienführung auf die soziale Kohäsion und das Zusammenleben im Quartier auswirken. Untersucht wurden zum Beispiel die Praktiken, Normen und Wertevorstellungen in Bezug auf Familie, Alltagsleben, Rituale und soziale Beziehungen, aber auch das Thema Sprache und Kommunikation in der Familie, untereinander und mit Institutionen. Eine ganze Bandbreite an Methoden der empirischen Sozialforschung kam zum Einsatz.

Forschung in und mit der Siedlung

Dr. Astrid Wonneberger, Ethnologin und POMIKU-Projektkoordinatorin

Dr. Astrid Wonneberger, Ethnologin und POMIKU-Projektkoordinatorin

HAW Hamburg

Der Forschungsprozess war zudem an die Gemeinwesenarbeit des Verbundpartners Lenzsiedlung e.V. angebunden. Mit Ausstellungsformaten wie u „Beziehungskisten“ Fotosäulen und  Plakaten, Erzählcafés und anderen Aktionen haben die Forschenden die „LenzerInnen“ zu Begegnungen, Gesprächen, Interviews und künstlerischen Aktivitäten eingeladen – und dabei genau zugehört. Die Datenerhebung erfolgte durch einen Mix aus teilnehmender Beobachtung, explorativen und leitfadengestützten Interviews sowie standardisierten Methoden, beispielsweise einer Netzwerkanalyse.

Hier einige Ergebnisse: Es stellte sich bereits nach kurzer Zeit heraus, dass die Bewohnerschaft in Bezug auf Familienformen, Haushaltszusammensetzung, kulturelle/nationale Hintergründe, Interessen und Bedarfe usw. sehr heterogen ist. Oft bestehen gute Kontakte innerhalb der Siedlung, etwa aufgrund ähnlicher Familiensituation, direkter Nachbarschaft und gemeinsamer Interessen. Bei Interviews zeigte sich, dass sich viele BewohnerInnen positiv mit der Siedung identifizieren. Gleichzeitig erleben sie negative Zuschreibungen und teilweise auch Stigmatisierungen aufgrund ihres Wohnortes, was auf die Selbstsicht der BewohnerInnen zurückwirkt (siehe POMIKU-Abschlusstagung und Artikel).

Sichtbarkeit und Zusammenhalt stärken

Dr. Sabina Stelzig, Soziologin und Forscherin in POMIKU, HAW Hamburg

Dr. Sabina Stelzig, Soziologin und Forscherin in POMIKU, HAW Hamburg

HAW Hamburg

Und noch eine Besonderheit des BMBF-geförderten POMIKU-Verbundprojektes: Es will und hat die Sichtbarkeit und den Zusammenhalt in der Siedlung gestärkt. „Bei POMIKU haben wir nicht nur einzelne Gruppierungen, sondern auch immer wieder einzelne BewohnerInnen der Lenzsiedlung in den Blick genommen und sie in den Forschungsprozess einbezogen“, erklärt Projektmitarbeiterin Dr. Sabina Stelzig, und ihre Kollegin Diana Lölsdorf ergänzt: „Wir arbeiten Herausforderungen, Chancen und Möglichkeiten, aber auch Fragen und Probleme heraus, die durch Zuwanderung von Menschen mit vielfältigen Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen entstehen. Diese Einblicke in die alltägliche Lebensführung können für Beratungsangebote nutzbar gemacht werden. Sie tragen dazu bei, die BürgerInnen darin zu unterstützen, am gesellschaftlichen Leben (besser) teilzuhaben“.

Aktionen und Publikationen

Diana Lölsdorf, M.A., Sozialpädagogin und Forscherin in POMIKU, HAW Hamburg

Diana Lölsdorf, M.A., Sozialpädagogin und Forscherin in POMIKU, HAW Hamburg

HAW Hamburg

Bei der POMIKU-Abschlusstagung im März 2022 haben die Forschenden erste Projektergebnisse vorgestellt und in Form von Transferwerkstätten an Akteure der Sozial- und Familienberatung, Sozialer Arbeit und Elternarbeit in verschiedenen Hamburger Bezirken zurückgespielt und diskutiert. Zukünftig sollen die Erkenntnisse für die (Weiter-)Entwicklung von Beratungs- und Beteiligungskonzepten und -formaten nutzbar gemacht werden. Auch Vergleiche mit anderen ähnlichen und bereits erforschten Quartieren wurden  angestellt und sind auch für die weitere Datenauswertung vorgesehen, um überregionale familienwissenschaftliche Erkenntnisse über das Zusammenspiel von Familie, Kultur, Gender, Urbanität, Stadtentwicklung und im Kontext von Postmigration zu generieren.

Zu einem Teil dieser gesellschaftsrelevanten Fragen erscheint bei Springer der Sammelband „Werte und Wertewandel in der postmigrantischen Gesellschaft“ (Arbeitstitel) von Astrid Wonneberger, Sabina Stelzig, Diana Lölsdorf und Katja Weidtmann (Hg.). Die Beiträge stellen  Erkenntnisse vor, die im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte der BMBF-Förderlinie „Migration und gesellschaftlicher Wandel“ entstanden sind (Hier geht’s zum Abstract.) Sie thematisieren vor allem Werte und Normen im Zusammenhang mit Familie, Geschlechterbeziehungen, Gleichberechtigung, Erziehung, Religion und Sprache.

Bildergalerie Lenzsiedlung

Lenzsiedlung

Dr. Sabina Stelzig

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Dr. Sabina Stelzig

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Dr. Astrid Wonneberger

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Dr. Astrid Wonneberger

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Dr. Astrid Wonneberger

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