„Sammlung Wolfgang Haney”: Interview mit Projektleiter Prof. Dr. Uffa Jensen und Projektmitarbeiterin Wiebke Hölzer

Sie ist weltweit einzigartig: die „Sammlung Wolfgang Haney” mit ihrem 15.000 Zeugnissen des Antisemitismus. Ob Postkarten, Plakate oder Münzen – das BMBF-Verbundprojekt „Der Sammler und seine Dinge. Die Sammlung Wolfgang Haney“ macht sie für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich. Wie das Projekt zum Umgang mit Antisemitismus beitragen kann, erläutern Prof. Dr. Uffa Jensen und Wiebke Hölzer.

Der Sammler Wolfgang Haney bei der Eröffnung der Ausstellung „Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten“ 1999 in Frankfurt am Main

Der Sammler Wolfgang Haney bei der Eröffnung der Ausstellung „Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten“ 1999 in Frankfurt am Main, unbekannte:r Fotograf:in. 

Berlin, Familienbesitz

Herr Prof. Jensen, warum ist die Erforschung der Sammlung hoch relevant für den Umgang mit Antisemitismus in unserer Gesellschaft?

Die Sammlung Haney umfasst zahlreiche Objekte wie beispielsweise Postkarten, Vignetten, Plakate und dreidimensionale Figuren, die zumeist zwischen 1890 und 1945 hergestellt wurden und somit den visuellen Antisemitismus dieses Zeitraums dokumentieren. Es handelt sich dabei größtenteils um massenhaft produzierte, verbreitete und genutzte Alltagsgegenstände.

Die Sammlung Haney bildet für uns eine wichtige Möglichkeit, um den Alltagsantisemitismus zu erforschen, indem wir die Hersteller der Gegenstände ausfindig machen, die Vertriebswege und Absatzmärkte nachvollziehen und die historischen Formen des Marketings untersuchen sowie die Zirkulation der Objekte innerhalb der Gesellschaft rekonstruieren. Antisemitische Stereotype, die sich auf den historischen Objekten finden, werden teils in ihrer ursprünglichen oder aber in einer abgewandelten bis stark reduzierten Form nach wie vor verbreitet, beispielsweise über soziale Medien: Bildpostkarten um 1900 zeigen antisemitische Darstellungen von Händlern ‒ heute wird das antisemitische Meme des „Happy Merchant“ auf TikTok, Reddit und anderen Plattformen genutzt. Wir machen also auch die Ursprünge dieser aktuell verwendeten Stereotype sichtbar.

Bei der Untersuchung der genannten Aspekte ist die Sammlung Haney von enormer Relevanz, da kein Museum und keine Institution die entsprechenden Objekte in dem Umfang zusammentrugen, wie es Privatpersonen wie Wolfgang Haney taten. Deshalb beschäftigen wir uns in dem Forschungsprojekt auch mit Wolfgang Haney als Sammlerpersönlichkeit, seiner Motivation und der Öffentlichkeitswirksamkeit seiner Kollektion.

Frau Hölzer, gibt es schon konkrete Forschungsergebnisse aus Ihrem Projekt? 

Ja, eine ganze Reihe. So haben wir bereits die Biografie der Familie Haney rekonstruiert sowie verschiedene Aspekte der Sammlung wie beispielsweise deren Entstehung, Wachstum, Struktur sowie Öffentlichkeitswirksamkeit untersucht. Auch die Figur des Fagin stand in unserem Projekt bereits im Fokus, da die Sammlung zahlreiche Porzellanobjekte umfasst, die sich auf den Antagonisten aus Charles Dickens Roman „Oliver Twist“ beziehen. Während die Objekte im angloamerikanischen Raum hergestellt wurden, funktionierten die verwendeten antisemitischen Stereotype dagegen länder- und auch sprachübergreifend. Seit März und bis zum Ende des Jahres 2023 befassen wir uns mit den antisemitischen Bildpostkarten der Sammlung Haney, um die oben genannten Aspekte herauszuarbeiten.

Haneys Ziel war, mit seiner Sammlung über Antisemitismus und Nationalsozialismus aufzuklären sowie politisch zu bilden. Das will Ihr Projekt auch – was machen Sie heutzutage anders?

Selbstverständlich teilen wir Wolfgang Haneys Ziel und verfolgen dieses mit der Perspektive als Forschende. Wolfgang Haney hingegen baute seine Sammlung mit der Perspektive eines Zeitzeugen auf: Er galt während der NS-Zeit als sogenannter Mischling 1. Grades. Seine Mutter musste aufgrund ihrer jüdischen Herkunft Zwangsarbeit leisten und sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verstecken. Wolfgang Haneys Onkel und Tante mütterlicherseits wurden 1942 im Vernichtungslager Kulmhof ermordet. Aufgrund dieser Familienbiografie legte Wolfgang Haney die Sammlung ab 1989 an, um damit der von Ihnen beschriebenen Motivation zu folgen. Er unterstützte zu Lebzeiten viele Forschungs- und Ausstellungsprojekte, die auf den Objekten der Sammlung basierten. So befasste sich beispielsweise Isabel Enzenbach mit den antisemitischen Vignetten der Kollektion und konzipierte die Ausstellung „Angezettelt. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute“, die 2016 im Deutschen Historischen Museum zu sehen war. Diese Grundlagenforschung führen wir mit dem Verbundprojekt fort. Dabei ist es für uns enorm wichtig, stets Wolfgang Haney als Sammler der untersuchten Objekte zu benennen und zu würdigen, weshalb wir innerhalb des Projektes auch die Familienbiographie und die Sammlungsgeschichte rekonstruierten.

Einblick in die Ausstellung „Angezettelt. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute“ im Deutschen Historischen Museum Berlin 2016.

Einblick in die Ausstellung „Angezettelt. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute“ im Deutschen Historischen Museum, Berlin, 20. April bis 31. Juli 2016.

Deutsches Historisches Museum, Foto: Wolfgang Siesing 

Herr Prof. Jensen, was ist das Wertvollste an der Haney-Sammlung?

Diese Frage lässt sich aus verschiedenen Perspektiven beantworten: Für uns als Forschende sind die Objekte der Sammlung Haney aufgrund der oben genannten Rechercheansätze relevant. Zudem bewahrte Wolfgang Haney nicht ausschließlich die antisemitischen Objekte auf, sondern zudem familienbiografische Dokumente, zahlreiche Korrespondenzen, Leihverkehr mit Museen sowie die Ergebnisse seiner eigenen Recherchen. Auch diese Dokumente befinden sich heute am Deutschen Historischen Museum und boten die Grundlage für die Rekonstruktion der Sammlungsgeschichte.

Gleichzeitig umfasst die Kollektion Objekte aus der Zeit des Nationalsozialismus mit einem hohen, emotionalen Wert: Beispielsweise schenkte eine Person Wolfgang Haney einen sogenannten Gelben Stern für die Sammlung. Diesen Stern hatte die Ehefrau des Schenkenden ihm auf den Mantel genäht und weil seine Frau während der NS-Zeit ermordet wurde, war er zusammen mit dem Ehering der einzige Gegenstand, der ihn physisch an seine Frau erinnerte.

Sie sehen also: Die Sammlung Haney ist zum einen aufgrund der Objekte und zum anderen als zeithistorisches Zeugnis in ihrer Gänze wertvoll.

Und noch eine letzte Frage. Am 23. Mai findet in Berlin die BMBF-Statustagung zur Förderrichtlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus“ statt. Herr Prof. Jensen, verraten Sie uns, was Sie bei der Podiumsdiskussion „Welche Strategien gegen Antisemitismus – Forschung und Politik im Dialog“ Ihre Kernaussage sein wird?

Da es sich dabei um eine Podiumsdiskussion handelt, kann ich das nicht so genau wissen. Mir ist aber immer wichtig, dass wir die historische Dimension des Antisemitismus nicht aus dem Blick verlieren. Antisemitismus ist ein extrem altes Phänomen, das sich längst nicht nur auf die Phase des NS-Regime reduzieren lässt. Dann sind wir auch etwas weniger überrascht, dass Antisemitismus bis heute die Gegenwart prägt. Wer jetzt glaubt, dass wir nur etwas stärker gegen diesen ankämpfen müssen, um ihn zu beseitigen, unterschätzt diese historische Tiefe und Breite des Problems, fürchte ich.

Wenn wir dagegen Strategien entwickeln wollen – und natürlich müssen wir das –, sollten wir uns gerade mit der Verankerung des Antisemitismus im Alltag auseinandersetzen, die es letztlich schon seit der Frühen Neuzeit gab. Das wirft auf Fragen für die Gegenwart auf: Wie wird Antisemitismus in neuen Medien normalisiert? In welchen Bildern zirkuliert er wieder verstärkt? Wie kann er an Verschwörungsmythen andocken etc.?

Herzlichen Dank Ihnen beiden, Frau Hölzer und Herr Professor Jensen, für Ihre interessanten Einblicke!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 5. Mai 2023, Fragen: Katrin Schlotter)

Der Sammler und seine Dinge – Erforschung der Sammlung Wolfgang Haney

Bei dem BMBF-Verbundprojekt zur Erforschung der Sammlung Wolfgang Haney handelt es sich um eine Kooperation zwischen dem Zentrum für Antisemitismusforschung und dem Deutschen Historischen Museum (DHM), wo sich die Sammlung seit Anfang 2020 befindet. Das Forschungsprojekt gliedert sich in zwei Teilprojekte: Zum einen die Rekonstruktion der Sammlerpersönlichkeit Haney, die Entstehung der Sammlung, eine Analyse des damit verbundenen Marktgeschehens sowie die Kontextualisierung zu anderen Sammlerinnen und Sammlern; zum anderen die Untersuchung der verschiedenen Antisemitica mit besonderem Fokus auf Alltagsgegenstände und deren Nutzung wie Verbreitung.

BMBF-Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus“

Mit der am 7. April 2020 veröffentlichten Förderlinie in Höhe von 12 Millionen Euro stärkt das BMBF die Antisemitismusforschung in Deutschland und unterstützt zehn Forschungsverbünde mit 31 Teilvorhaben an Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen. Eines davon ist „Der Sammler und seine Dinge – Erforschung der Sammlung Wolfgang Haney“.

Das Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) 

Das 1982 gegründete ZfA an der TU Berlin betreibt interdisziplinäre Grundlagenforschung zum Antisemitismus in seinen vielfältigen Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen in Vergangenheit und Gegenwart und zählt zu den weltweit bedeutendsten Einrichtungen seiner Art.

Das Deutsche Historische Museum

Das Deutsche Historische Museum in Berlin ist Deutschlands nationales Geschichtsmuseum und eines der größten Geschichtsmuseen der Welt. Es versteht sich als Ort zur Stärkung historischer Urteilskraft, an dem übergreifende philosophische, ethische und historische Fragen verhandelt werden. 

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