Merian Center: CALAS-Forschung zu Gewalt und Widerstand in Lateinamerika
Ob in Mexiko, Argentinien oder Costa Rica – geschlechtsspezifische Gewalt ist in vielen lateinamerikanischen Gesellschaften ein Problem. Wie Macht, Geschlecht und Politik miteinander verbunden sind, erfahren Sie hier im Interview mit CALAS Projektleiterin Prof. Dr. Christine Hatzky.
Erst eine interdisziplinäre CALAS-Tagung in San José, Costa Rica, und nun eine umfangreiche Publikation auf Spanisch: Biopolítica, violencias de género y resistencias en América Latina (CALAS/CLACSO, 2025), die Sie mit herausgegeben haben. Frau Professorin Hatzky, wie fügt sich Ihre Analyse in das Forschungsprogramm des Merian Centre CALAS ein?
Prof. Dr. Christine Hatzky ist seit 2017 Teilprojektleiterin des noch bis 2029 vom BMFTR-geförderten Maria Sibylla Merian Center for Advanced Latin American Studies in Humanities and Sociel Siences (CALAS). Sie ist Co-Direktorin des CALAS-Regionalzentrums „Zentralamerika und Karibik“ an der Universidad de Costa Rica. Zusammen mit ihren Kolleg_innen in Costa Rica und Deutschland leitete sie die CALAS-Forschungslinie Visiones de paz: Transiciones entre la violencia y la paz en América Latina. (2019-2021) und ist zukünftig für weitere Forschungslinien, im Rahmen des neuen CALAS-Forschungsprogramms „Horizonte erweitern“ zu Migration und Mobilität und zur Transformation der Arbeitswelt in Lateinamerika verantwortlich.
Christine Hatzky ist Professorin für die Geschichte Lateinamerikas und der Karibik am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover.
Christine Hatzky
Unser Merian Center CALAS analysierte in seiner Hauptphase (2019-2025) unterschiedliche Krisenphänomene (Gewalt, soziale Ungleichheit, Umweltzerstörung, Identitätskrisen) in Lateinamerika und der Karibik mit einem Fokus auf die Lösungsstrategien, die aus diesen Gesellschaften heraus erwachsen. Eine Querschnittsaufgabe für alle Themenfelder war die Frage, inwiefern Frauen bzw. nicht-binäre Geschlechteridentitäten in besonderer Weise von diesen Krisen betroffen sind, bzw. welche Strategien sie entwickeln, um diese Prozesse öffentlich sichtbar zu machen.
Die von mir geleitete Forschungslinie „Visions of peace. Transitions between violence und peace“ analysierte unterschiedliche, weit über rein staatliche Gewaltprozesse hinausgehende Dimensionen von Gewalt in Lateinamerika: Sie nahm derzeit vorherrschende Gewaltphänomene, etwa die wachsende Verbindung von krimineller und staatlicher Gewalt in den Blick. Wir stießen überall auf geschlechtsspezifische Gewalt, etwa die feminicidios („Femizide“), die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Das große Ausmaß grausamster Hinrichtungen von jungen Frauen an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze erreichte schon Ende der 1990er Jahre die Weltöffentlichkeit. Auch die Proteste und Aktivitäten der Hinterbliebenen (vor allem der Mütter) der ermordeten Frauen sorgten für große Aufmerksamkeit, etwa indem sie Gerichtsprozesse gegen die Täter anstrengten und spektakuläre, öffentlichkeitswirksame Aktionen (z.B. die „Zapatos Rojos“ [„Rote Schuhe“]) lancierten. Diese mündeten schließlich in eine neue Frauenbewegung („Ni una menos“ [Nicht eine weniger!]). Vor allem diesen zivilen Protestbewegungen aus Lateinamerika haben wir es zu verdanken, dass sexualisierte Gewalt jetzt auch in unseren Gesellschaften öffentlich debattiert und geahndet wird.
Die Beträge des Sammelbands zeigen auf, wie Macht, Geschlecht und Politik in Lateinamerika zusammenwirken. Welche Rolle spielt „Biopolitik“ für das Verständnis der heutigen Gewaltformen in Lateinamerika?
Biopolítica, violencias de género y resistencias en América Latina (CALAS/CLACSO, 2025)
Christine Hatzky
Lateinamerika gilt als eine der gewalttätigsten Regionen unseres Planeten. Die Gewaltprozesse basieren auf einer großen sozialen Ungleichheit, eng verknüpft mit ethnisch- und genderbasierter Ungleichheit. Mit dem Konzept der Intersektionalität, das u.a. in Lateinamerika weiterentwickelt wurde, lassen sich die verschiedenen Ausprägungen biopolitischer Gewalt analysieren und die am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen identifizieren. Biopolitische Gewalt, in ihrer lebenszerstörenden Dimension auch als „Nekropolitik“ bezeichnet, beruht auf Machthierarchien, die zwischen sozialen Klassen, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder Alter differenzieren. Sie richtet sich vorallem gegen Frauen und andere vulnerable Bevölkerungsgruppen. In Verbindung mit traditionellen, patriarchal geprägten Geschlechterrollen öffnet biopolitische Gewalt Ausbeutungs- und Gewaltverhältnissen Tür und Tor. Diese Macht über das Leben drückt sich auch in der Disziplinierung von Körpern aus, insbesondere von weiblichen Körpern, durch die Kontrolle über Sexualität und Reproduktion, durch Gewalt in der Geburtshilfe, durch sexuelle Gewalt oder die Verweigerung von Rechten.
Ihre Analysen zeigen historische Kontinuitäten auf – etwa koloniale Herrschaft, Rassismus und Diskriminierung. Inwieweit wirken patriarchalische, koloniale Strukturen bis in die Gegenwart hinein?
Bei der Eroberung und Kolonisierung Lateinamerikas und der Karibik wurde „Biopolitik“ erstmals in großem Stil erprobt. Diese auf globaler Ebene erste Erfahrung moderner kolonialer Herrschaft verdeutlichte, dass die Eroberung von Territorien mit der Unterwerfung der Körper einhergeht. Sexuelle Gewalt war ein Mittel der Kriegsführung und der Bevölkerungskontrolle. Die Unterwerfung weiblicher Körper zum Zweck der Fortpflanzung sollte ab dem 16. Jahrhundert die Folgen der Pandemie ausgleichen, die aus Europa eingeschleppte Viruserkrankungen mit extrem hoher Sterberate und einem entsprechend hohen Bevölkerungsverlust verursacht hatten. Die Etablierung rassistischer Differenzierungen und Kategorisierungen in der Kolonialzeit dienten der Versklavung indigener und afrikanischer Bevölkerungsgruppen, um ihre Arbeitskraft auszubeuten. Auch der systematische Extraktivismus natürlicher Ressourcen und die Zerstörung von Lebensgrundlagen zur Etablierung eines profitgesteuerten ökonomischen Modells geht auf die Kolonialherrschaft zurück.
Welche Rolle spielt Widerstand in Ihrer Publikation?
Mehrere unserer Autorinnen und Autoren loteten Strategien und Reichweiten feministischer Organisation gegenüber patriarchaler Gewalt aus. So reflektiert beispielsweise ein Beitrag den Widerstand gegen sexuelle Gewalt in Argentinien und die neueren konzeptionellen Beiträge junger Feministinnen, die die Hintergründe dieser Gewalt analysieren und gleichzeitig Aktivistinnen sind. Widerstand heißt aber auch die Entlarvung von Maskuliniätsmythen. In diesem Zusammenhang diskutierten wir die Reichweite eines relationalen Feminismus, der die zerstörerischen Dimensionen patriarchaler Machtstrukturen analysiert und bekämpft, dabei aber Männer nicht ausschließt. Dieser auf Resonanz und Verbindungen ausgerichtete Feminismus betont die Fluidität zwischen den Geschlechtern und verweist auf die enge Verknüpfung zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben auf unserem Planeten. Eine Sichtweise, die u.a. auf verschiedenen indigenen Kosmologien Lateinamerikas basiert. Eine Reflektion über den im Rahmen unserer Forschungslinie „Visions of peace“ entstandenen Dokumentarfilm, der die Erfahrung des gewaltsamen Verschwindens aus der Perspektive einer Mutter schildert, deren Sohn auf der Flucht aus Honduras in die USA in Mexiko „verschwand“, rundet den Band ab.
Wenn Sie auf die Debatten in Lateinamerika und Europa blicken – welche gemeinsamen Perspektiven sehen Sie für die Zukunft? Wie könnte eine stärkere internationale Vernetzung, etwa mit Deutschland, aussehen?
Die Etablierung von zwei Maria Sibylla Merian Zentren in Lateinamerika auf Initiative des Bundesministeriums für Forschung, Technologie und Raumfahrt (CALAS und Mecila) war die bislang größte Investition zur Stärkung des lateinamerikanisch-deutschen Austauschs in den Sozial- und Geisteswissenschaften. In den letzten acht Jahren konnten wir durch CALAS wichtige Impulse zur Entwicklung einer gemeinsamen Forschung und für einen kontinuierlichen Austausch setzen. Wir sind ganz aktiv daran beteiligt, „Weltwissen“ für die planetarische Zukunft zu schöpfen. Wir können davon profitieren, dass wir durch CALAS die Möglichkeit haben, von unseren lateinamerikanischen Kolleginnen und Kollegen zu lernen. Forschende aus den deutschen Sozial- und Geisteswissenschaften sind heutzutage präsenter im lateinamerikanischen Diskurs und im Sinne der Wissenschaftsdiplomatie sicherlich eine Alternative zum (immer noch) dominanten Austausch mit US-amerikanischen Wissenschaftsinstitutionen.
Besten Dank für die spannenden Einblicke und Perspektiven, Frau Professorin Hatzky!
(Das Interview erfolgte schriftlich am 21.11.2025; Fragen: Katrin Schlotter)
Maria Sibylla Merian Center for Advanced Latin American Studies in the Humanities and Social Sciences (CALAS)
Das Maria Sibylla Merian Center for Advanced Latin American Studies in the Humanities and Social Sciences (CALAS) basiert auf der Kooperation von drei deutschen und vier lateinamerikanischen Universitäten. Es wird seit 2017 vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) gefördert, um die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Lateinamerika zu stärken. Interdisziplinär zusammengesetzte Forscherteams, zu denen lateinamerikanische und internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Fellows eingeladen werden, erforschen dort gesellschaftliche Krisen in sechs miteinander verbundenen Schwerpunkten. Im Mittelpunkt der Forschung steht, wie die Erfahrungen lokal, regional und global verflochtener Krisen und Veränderungsprozesse von verschiedenen Akteuren ausgelöst, wahrgenommen und reflektiert werden, aber auch welche Lösungsmöglichkeiten aus den jeweiligen Kontexten erwachsen. Merian-Centren gibt es in verschiedenen Weltregionen, in Indien, Tunesien, Brasilien und Ghana.
Die Merian Centres und die Internationalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften
Die BMFTR-Initiative der Merian Centres stellt ein weltweit einzigartiges Förderformat für die Internationalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften dar. An den fünf BMFTR-geförderten Merian Centres in Lateinamerika, Indien sowie in Nord-und Westafrika forschen gemeinschaftlich Fellows aus Deutschland, dem Gastland sowie weiteren Weltregionen aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln zu einem selbstgewählten Schwerpunktthema. Dabei analysieren sie aus geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektive gesellschaftliche Themen in ihren transnationalen Zusammenhängen und bieten somit Orientierungs- und Handlungswissen für den Umgang mit aktuellen weltweiten Herausforderungen.
Kurz und knapp: Die Publikation „Biopolítica, violencias de género y resistencias en América Latina“
Der Sammelband „Biopolítica, violencias de género y resistencias en América Latina“ (CALAS/CLACSO, 2025) analysiert die Wechselwirkungen zwischen Macht, Geschlecht und Politik sowie die gewalttätigen Dimensionen der Biopolitik in Lateinamerika. Die Autorinnen und Autoren zeigen, wie historische Ungleichheiten und Diskriminierungen fortwirken und wie sich dagegen vielfältige Formen des Widerstands entwickeln. Das Buch verbindet wissenschaftliche Analysen mit Erfahrungen aus feministischen und sozialen Bewegungen.
Um diese Website bestmöglich an Ihrem Bedarf auszurichten, nutzen wir Cookies und den Webanalysedienst Matomo, der uns zeigt, welche Seiten besonders oft besucht werden. Ihr Besuch wird von der Webanalyse derzeit nicht erfasst. Sie können uns aber helfen, indem Sie hier entscheiden, dass Ihr Besuch auf unseren Seiten anonymisiert mitgezählt werden darf. Die Webanalyse verbessert unsere Möglichkeiten, unseren Internetauftritt im Sinne unserer Nutzerinnen und Nutzer weiter zu optimieren. Es werden keine Daten an Dritte weitergegeben. Weitere Informationen hierzu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.