Interview mit Prof. Gennadij Korolov, Institute of History of Ukraine of the National Academy of Sciences of Ukraine

Gastwissenschaftler am Leibniz-Institut für Ost-und Südosteuropaforschung in Regensburg (IOS): „Die Zusammenarbeit von Forschern aus der Ukraine und Deutschland am IOS hat das Potenzial, eine breite Diskussion über die Entkolonialisierung der Geschichte Ostmitteleuropas anzustoßen.“

Korolov

Prof. Gennadij Korolov, Institute of History of Ukraine of the National Academy of Sciences of Ukraine

Gennadij Korolov

Sie sind schon eine Weile bei IOS. Haben Sie gute Unterstützung erhalten? Woran forschen Sie?

Mein Forschungsaufenthalt am IOS ist vollständig finanziert. Ich forsche zur verwickelten Geschichte von Ideologie und politischen Ideen in Ostmitteleuropa während des Ersten Weltkriegs (1914-1918) und danach.

Haben sich die Diskurse über das Bedrohungspotenzial Russlands in den letzten Jahren in der ukrainischen und deutschen Geschichts- und Politikwissenschaft unterschieden? Wenn ja, inwieweit? Bitte geben Sie uns ein Beispiel.

Ich kann nicht für die deutsche Geschichtswissenschaft sprechen. Ich möchte jedoch eine allgemeine Tendenz bei bestimmten europäischen Wissenschaftlern und Politikern feststellen, Russland "besser zu verstehen". In vielen Fällen führen solche Versuche mit Blick auf das geltende internationale Recht und die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft zu Irritationen.

In der Ukraine begann die Diskussion über die Bedrohung durch Russland nach dem Maidan im Jahr 2004. Es ging um die Verwendung "historischer Argumente" durch den Kreml, um "historische Rechte" und geopolitische Absichten gegenüber der Ukraine zu begründen sowie die Annexion der Krim im Jahr 2014 und den Krieg im Donbas zu legitimieren.

Welche Impulse kann die Zusammenarbeit von Forschern aus der Ukraine und Deutschland am IOS für die aktuelle geschichts- und politikwissenschaftliche Debatte geben?

Erstens, eine breite Diskussion über die Entkolonialisierung der Geschichte Ostmitteleuropas anzustoßen. Zweitens, die Möglichkeiten der transnationalen Beschreibung der Geschichte Ostmitteleuropas aufzuzeigen.

Wie kann das IOS-Projekt "Staatlichkeit in der Ukraine 1918" zu einem besseren Verständnis der Geschichte der Ukraine als souveräner Staat im europäischen Kontext beitragen?

Das Projekt befasst sich mit der Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg, als die Ukraine zu einem unabhängigen Staat erklärt wurde. Dies war auch die Zeit, in der sich die moderne ukrainische nationale Identität herauszubilden begann und die Idee eines unabhängigen ukrainischen Staates zu einem Leitgedanken für mehrere Generationen wurde. Das Projekt hat eine Dekolonisierungskomponente in der Geschichte Ostmitteleuropas, oder, wie es geistig umrissen wird, des Länderraums zwischen Deutschland und Russland.

Besten Dank für Ihre Einschätzung, Herr Professor Korolov!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 11. Oktober 2022)

Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)

Das Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) mit Sitz in Regensburg wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit dem Freistaat Bayern institutionell gefördert. Am IOS befassen sich Forschende aus verschiedenen Disziplinen insbesondere mit dem Raum der ehemaligen Sowjetunion und Südosteuropa.

Zurück zum Ukraine-Special: Woran forschen ukrainische Fellows in Deutschland?