Chinaforschung: Jahreskonferenz „The Making of Epochal Events”

Bahnbrechende Erfindungen, große Dürrekatastrophen, gewaltsame Rebellionen – nach epochalen Ereignissen scheint nichts mehr wie es war. Aber wie prägen solche Ereignisse unser Verständnis von China?

Rund um dieses Thema drehte sich die Jahrestagung des BMBF Forschungsverbunds „Welterzeugung ('worldmaking') aus globaler Perspektive: ein Dialog mit China“ vom 15. bis 17. Juni 2023 am CATS (Centrum für Ostasienwissenschaften und Transkulturelle Studien) in Heidelberg.

Im Interview: Prof. Barbara Mittler, Leiterin des Heidelberger Teilprojekts “Epochale Lebenswelten – Mensch, Natur und Technik“ im BMBF-Verbundprojekt „Welterzeugung aus globaler Perspektive: ein Dialog mit China“.

Mit ihrem Verbundprojekt untersuchen Sie seit 2020 bestehende Auffassungen von „Welt“ und fragen, wie „Welten“ eigentlich erzeugt und verändert werden – zusammen mit chinesischen Kolleginnen und Kollegen. Welche aktuellen Entwicklungen stehen im Fokus der Verbund-Forschungen?

Barbara Mittler

Prof. Barbara Mittler, Leiterin des Heidelberger Teilprojekts “Epochale Lebenswelten Mensch, Natur und Technik“ im BMBF-Verbundprojekt „Welterzeugung aus globaler Perspektive: ein Dialog mit China“.

privat

Im Fokus steht bei uns der interdisziplinäre Austausch zur Frage, wie Welten sich durch Brucherfahrungen oder apokalyptische Szenarien verändern. Dabei diskutieren wir sowohl sehr aktuelle Themen wie Klimawandel und Covid19 als auch historische Fragen, wie die Landschaftsveränderungen etwa durch Kolonisierung im 19. Jahrhundert. Wir fragen etwa: Welche neuen Lebensräume (etwa Dachgärten oder Grünanlagen) entstehen als Antworten auf solche Ereignisse, wie verändern sie das Verhältnis zwischen Mensch und Tier (Angst, Diskriminierung). Für das Worldmaking Kolleg zentral ist dabei der Austausch einerseits zwischen den Fächern und andererseits über die Grenzen verschiedener sinophoner Welten hinweg — wir betrachten unsere Fragestellungen also gemeinsam mit Fellows aus der Volksrepublik China, aus Hong Kong, aus Taiwan und auch aus Übersee.

Ihre Jahreskonferenz hat eine große Bandbreite „epochaler“ Ereignisse beleuchtet – und gezeigt, wie sie dargestellt und wahrgenommen werden. Bitte erklären Sie kurz, warum und wozu.

Die „epochale“ Qualität von Ereignissen, in denen vielfach menschliche, technische und Umweltfaktoren in einem komplexen Interaktionsverhältnis stehen, ist keineswegs von vorneherein immer schon gegeben. Vielmehr wird oft erst im Rückblick ausgehandelt, ob ein Ereignis als epochemachend zu werten ist. Das hat oft sehr viel mit Macht zu tun. In diesem Aushandlungsprozess können ganz widersprüchliche Positionen zum Tragen kommen, wenn verschiedene Gruppen miteinander ringen, um die Hoheit im Diskurs zu gewinnen. Die Narrative werden dabei über verschiedenste Medien generiert, propagiert oder in Frage gestellt – etwa in Schul- oder Geschichtsbüchern, in journalistischen Darstellungen, in der Literatur oder Kunst. Durch Institutionalisierung zum Beispiel können sich manche Narrative besser durchsetzen als andere. Und sie beginnen dann eine zentrale Rolle für das Selbstbild und das kulturelle Gedächtnis einer Gruppe zu spielen, die sich anhand des epochalen Ereignisses definiert (Generation 68/Kulturrevolutionsgeneration, Last Generation/Generation Y). Deshalb ist ein Verständnis solcher Aushandlungsprozesse zentral und wichtig, nicht nur für eine tiefergreifende Annäherung an die Geschichte, sondern auch, um Identitätsbildungsprozesse (die aus- und eingrenzen können) in der Gegenwart und in der Vergangenheit nachvollziehen zu können.

Welche epochalen Ereignisse standen im Fokus der Konferenz?

Das Spektrum potenzieller epochaler Ereignisse, die in der Konferenz verhandelt wurden, war breit: Es reichte vom harschen dynastischen Umbruch von der Ming- zur Qing-Dynastie (wo eine nicht-Han-chinesische Gruppe, die Manchus, die Herrschaft über China übernahm), über die Gründung der Republik und der Volksrepublik China, von Fragen technologischen Wandels (etwa der Einführung des Dampfboots) im 19. Jahrhundert, bis hin zu Urbanisierungsprozessen (und den damit verbundenen Zerstörungen) in der jüngsten Gegenwart. Es wurden auch Epochen-Modelle und deren Neu-Interpretation in China vorgestellt. Vielfach diskutiert wurden unterschiedliche Aspekte der Corona-Pandemie als Umbrucherfahrung, die politischen Reaktionsstrategien und ihre sozialen Folgen. Als wie ‚epochal‘ diese Phase sich längerfristig erweisen wird, bleibt noch abzuwarten. Die Vorträge haben aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgezeigt, wie auf Narrative des Epochalen im Umgang mit der Pandemie Bezug genommen wird und wie in den Reaktionsweisen auf die Pandemie der Schatten früherer ‚epochaler‘ Ereignisse (von früheren Naturkatastrophen über den Großen Sprung bis hin zu SARS) hineinspielt.

Was ist für Sie das wichtigste Ergebnis der Konferenz?

Es ist schwer, eine solche Konferenz auf ein Ergebnis festzumauern. Deutlich wurde jedenfalls, wie fragil, wie volatil das ‚Epochale‘ eigentlich ist. Dasselbe Ereignis mag eine ganz andere Qualität gewinnen, je nachdem, wie man darauf blickt. Zum Beispiel, wenn man einmal die Sphäre rein anthropozentrischer Perspektiven verlässt. Oder wenn ein Ereignis, das den Zeitgenossen keineswegs als epochal erschien, in der rückwirkenden Deutung zu einem Kipppunkt in der historischen Entwicklung gestaltet wird. Oder umgekehrt, wenn man etwas, das bedrohlich und neu erscheint (etwa die Dampfmaschine), im Nachhinein als einen kleinen Schritt in einer langen Geschichte technologischen Wandels erkennt. Diese Prozesse besser zu verstehen, wird Aufgabe weiterer Forschungen sein.

Herzlichen Dank für Ihre Einblicke, Frau Professor Mittler!

Das Interview erfolgte schriftlich am 17. August 2023, Fragen: Katrin Schlotter

Das BMBF-Projekt „Welterzeugung („worldmaking“) aus globaler Perspektive: ein Dialog mit China“

Der interdisziplinäre Verbund „Welterzeugung („worldmaking“) aus globaler Perspektive: ein Dialog mit China“ untersucht bestehende Auffassungen von Welt und Praktiken von Welterzeugung in enger Kooperation mit deutschen und chinesischen Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Disziplinen. Das Projekt wird seit November 2020 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Verbundpartner sind: die Freie Universität Berlin, die Georg-August-Universität Göttingen, die Universität Heidelberg sowie die Julius-Maximilians-Universität Würzburg und als Kooperationspartner das umweltwissenschaftliche Rachel Carson Center an der Ludwigs-Maximilians-Universität München.

Was sind „epochale“ Ereignisse?

Nach Zoltan B. Simon ist ein epochales Ereignis (1) eine im Entstehen begriffene Kategorie einer neuen Art von historischem Denken, die als (2) ein hyper-historisches Moment verstanden (3) eine „neue Realität“ hervorbringt und so (4) zwei Welten voneinander trennt. (5) Das epochale Ereignis kann folgenreiche transformative Veränderungen anzeigen, (6) die über die Grenzen der menschlichen Erfahrung hinausgehen, (7) und kann so Verflechtungen von Mensch, Technologie und Natur verdeutlichen.[1]

[1] Nach: Zoltan B.Simon, The Epochal Event: Transformations in the Entangled Human, Technological, and Natural Worlds, Cham: Palgrave Macmillan, 2020, 114.

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