Regionalstudien-Tagung: Zeitenwende? Ja, aber nicht weltweit

„Halbe-halbe“. So lautete das Ergebnis auf die Frage, wessen Forschungen durch die „Zeitenwende“ verändert worden seien.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Regionalstudien-Tagung in Bonn am 27. und 28. April 2023

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Regionalstudien-Tagung in Bonn am 27. und 28. April 2023 

DLR

Der russische Überfall auf die Ukraine mit all seinen Folgen trifft vor allem die Mittel- und Osteuropaforschung sowie jene, die über geopolitische Fragen, Sicherheit und internationale Beziehungen arbeiten. Dies ist ein Eindruck der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) veranstalteten Statustagung für Projekte der Förderrichtlinie „Regionalstudien“, die am 27. und 28. April 2023 in Bonn stattfand.

BMBF-Unterabteilungsleiter Dr. Stefan Johannes Stupp begrüßte 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer und hob die kontinuierliche Förderung der Regionalstudien durch das Ministerium hervor. Den Anstoß lieferten Empfehlungen, die der Wissenschaftsrat im Jahr 2006 veröffentlicht hatte. Gerade die Area Studies trügen dazu bei, andere Weltvorstellungen zu verstehen anstatt sie vorschnell zu verurteilen – auch wenn man diese Vorstellungen nicht teile. Dem BMBF liege die Verbreitung der Projektergebnisse sehr am Herzen, so Stupp: „Die Gesellschaft will und muss wissen, wofür Forschungsgelder ausgegeben werden.“

Prof. Eckart Woertz (GIGA Hamburg) eröffnete das Panel über die „Zeitenwende“ mit der Mahnung: „Russland ist kein Paria auf der Welt.“ Der globale Süden mache bei der im Westen weit verbreiteten Kritik an Russland nicht mit, dort hätten sich vielfach andere Wahrnehmungen des Krieges gegen die Ukraine durchgesetzt. Woertz monierte, dass die Area Studies mit all ihren Expertisen in den öffentlichen Debatten zu wenig sichtbar seien. So kämen in Talkshows über den Ukraine-Krieg viele vermeintliche Experten zu Wort, die weder Russisch noch Ukrainisch sprechen. Dieses Defizit habe falsche Einschätzungen Russlands im Westen begünstigt. Mehrere Beiträge kritisierten, Deutschland habe langfristig Expertise beim Spracherwerb von Studierenden und in der Sprachforschung verloren. Glaubwürdig „auf Augenhöhe“ zu forschen und andere Weltsichten zu verstehen, setze jedoch profunde Sprachkenntnisse in den Forschungsregionen voraus. Nur so könne Europa überzeugend Austausch und Dialog betreiben und Forschungsfragen gemeinsam mit den Untersuchungsregionen formulieren.

Breiten Raum nahmen bei der Tagung die Vorstellungen aller 12 Fördervorhaben ein, darunter sind sowohl Einzelprojekte als auch Verbünde. Sie belegen deutlich eine erfreuliche Entwicklung. Vor 20 Jahren waren viele Disziplinen noch viel stärker europäisch oder westlich geprägt als heute. Expertisen über andere Regionen gab es zwar, sie waren aber selten in Forschungen oder Curricula der Politikwissenschaft, der Zeitgeschichte oder der Soziologie integriert. Heute sind lateinamerikanische oder asiatische Forschungsthemen innerhalb der einzelnen Fächer breiter vertreten und besser anerkannt als am Beginn der BMBF-Förderung vor 15 Jahren. Ein weiterer Trend: Das Personal der Projekte wird häufiger international rekrutiert. Auch so werden neue Ideen, Wahrnehmungen und Konzepte in die Forschung gebracht. Abgenommen hat dagegen der Stellenwert der traditionellen Länderkunde. Zahlreiche Themen in den Area Studies – die Folgen von Klimawandel, Flucht und Migration, Wertschöpfungsketten von Rohstoffen bis zu Produkten – verlangen Perspektiven und Untersuchungsmethoden, die Staatsgrenzen überschreiten.

Das zweite Panel galt dem Transfer von Forschungsergebnissen. Alexandra Lampke (Universität des Saarlandes) und Martin Reents (BTU Cottbus-Senftenberg) hatten einen Parcours mit vier Stationen vorbereitet: „Aufwand und Herausforderungen“, „Welche Maßnahmen?“ „Mehrwert der Maßnahmen“ und „Resonanz“. Dort trafen sich kleine Gruppen zum Austausch. Viele Mitwirkende stehen dem Transferanliegen offen gegenüber, fühlen sich aber herausgefordert und bisweilen überfordert, zusätzlich zu ihren Forschungen aufwändige Transferaktivitäten durchzuführen. Sie erfahren, dass derartige Aktivitäten im akademischen Wettbewerb – besonders an Universitäten – nur wenig zählen. Geboten sind daher realistische Erwartungen an den Transfer, die Konzentration auf Formate, die gut zu den angestrebten Zielgruppen passen und die Identifizierung von Lücken in fachöffentlichen und öffentlichen Debatten. Die Vorstellung der Projekte zeigt, dass traditionelle Politikberatung nur einen kleinen Teil der Transferarbeit umfasst. Die laufenden Projektarbeiten bieten künstlerische Elemente, Social Media Angebote, Veranstaltungen an ungewöhnlichen Orten und Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Institutionen. Der Einkauf von professionellem Know how sollte mindestens in größeren Projekten ermöglicht werden.

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