Regionalstudien: Wie „Kleine Literaturen“ Geschichte schreiben
Die Narrative von Zeit und Raum in Mittel- und Osteuropa erforscht seit 2021 das Forschungskolleg „Europäische Zeiten“ (EUTIM) und richtet dabei den Blick auch auf „Kleine Literaturen“. Mehr dazu erfahren Sie hier im Interview mit Projektleiterin Prof. Dr. Annette Werberger.
Im Interview: Prof. Dr. Annette Werberger, Leiterin des BMFTR-Forschungsverbundprojekts EUTIM
„Europäische Zeiten/European Times – A Transregional Approach to the Societies of Central and Eastern Europe“ (EUTIM) ist gemeinsames Forschungsprojekt der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), der Universität Potsdam und des Forum Transregionale Studien in Berlin. EUTIM startete 2021 mit einem Fokus auf Regime der Zeitlichkeit in den Kulturen, der Geschichte und den Literaturen in Europa mit einem besonderen regionalen Schwerpunkt auf Mittel- und Osteuropa. Die Ausgangsthese war die Beobachtung, dass sich das Zeitverständnis in Mittel- und Osteuropa 30 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs noch immer von westeuropäischen Vorstellungen unterscheidet.
Frau Professorin Werberger, in unserem letzten GSW-Interview sagten Sie unter anderem, Westeuropa habe sich nicht die Zeit genommen, die Vielfalt der Stimmen in Ostmitteleuropa zu hören. Hat sich das inzwischen gebessert, nicht zuletzt dank Ihres EUTIM-Projekts?
Ich denke, dass mehr Menschen zuhören und sich für Ostmitteleuropa interessieren. Wir werden noch immer deutlich öfter angefragt als das vor 2022. Wir leisten unseren Beitrag bei „European Times“, indem wir neben dem wissenschaftlichen Projekt weiterhin intensiv Transfer machen mit Übersetzungen, Vorträgen oder Artikeln. Die mangelnde Sichtbarmachung und Wertschätzung der Stimmen aus Ostmitteleuropa verweist auf ein umfassenderes Problem in Europa, das sehr viele gesellschaftliche Bereiche betrifft und vielschichtig ist. Dass hier noch viel zu tun ist, sieht man schon daran, dass das Interesse der Studierenden, einen Studiengang zu wählen, der sich mit Mittel- und Osteuropa befasst, nicht sehr hoch ist in Europa. Alle Seminare und Fakultäten klagen darüber. Studierende sind letztendlich Multiplikatoren in die Gesellschaft hinein und sehr wichtig. Junge Menschen wollen verständlicherweise etwas Positives studieren und bei den ostmitteleuropäischen Themen scheint es für sie oft ein Sprung ins Unbekannte zu sein, den sie lieber vermeiden, denn man muss eine neue (slawische) Sprache erlernen und die Region ist oftmals negativ assoziiert mit Worten wie Konflikt, Krieg oder Grauheit. Das ist nicht attraktiv und die positiven Bilder oder touristischen Erfahrungen dringen nicht immer durch. Wir kümmern uns darum, diese zeitlichen und räumlichen Stereotype sichtbarer zu machen – etwa die Vorstellung, dass die Gesellschaften in Ost- und Mitteleuropa weniger modern oder avanciert sind als im Westen. Das sind zeitliche Narrative, die EUTIM besonders untersucht, hier gilt es am Ende neue Begriffe und Erzählungen anzubieten. Wenn man den Stimmen zuhört sollte das auch keine patronalistische „Fürsorge“ der ‚älteren‘ EU-Europäer gegenüber den ‚jüngeren‘ sein, sondern man sollte verstehen, dass man daraus direkt lernen und wichtige Erfahrungen machen kann. Beispielsweise ist die Digitalisierung in Mittel-und Osteuropa bekanntlich sehr viel weiterer fortgeschritten, die Zivilgesellschaften sind sehr aktiv, und es gibt eine spannende, vielgelesene Literatur und Kultur aus dieser Region, die uns zeigen kann, wie man gegenüber autoritären Strukturen Widerstand leisten kann.
Ihr Forschungskolleg erforscht Narrative von Zeit und Raum in Mittel- und Osteuropa – und richtet dabei den Blick auf „Kleine Literaturen“. Was ist das Besondere an Kleinen Literaturen? Und ist dieser Begriff noch zeitgemäß?
Der Begriff ist nicht zeitgemäß und schon über 100 Jahre alt, aber leider haben die Probleme noch immer traurige Aktualität wie man anhand der ukrainischen Literatur gesehen hat. Erinnern wir uns nur daran, dass sie für viele gar nicht existierte. Was würde es uns also bringen, den Begriff zu verabschieden ohne seine Wirkung und Funktion untersucht zu haben? Gerade bei Literaturhistorikern oder Kulturhistorikerinnen die sich um „Kleine Literaturen“ – etwa der tschechischen, rumänischen, jiddischen etc. – kümmern, ist die Resonanz auf das Thema sehr groß. Wir alle haben ähnliche Probleme: Der dominante und verstellende Blick der Historiker und Historikerinnen großer Sprachen mit ihren imperialen Geschichten auf die kleinen Sprachen; die verbreitete Vorstellung, dass die „Kleinen Literaturen“ irgendwann zeitlich sich an die Moderne „anschließen“ werden, wenn sie endlich genug reifen; die unpassende Theorieanwendung, die den „Kleinen Sprachen“ (mit wenigen Ausnahmen) keinen universalistischen, sondern nur einen lokalen Anspruch zugesteht etc. Bei der Reflexion über die Kulturgeschichte der „Kleinen Literaturen“ wollen wir sowohl die Besonderheiten als auch das Allgemeineuropäische berücksichtigen. Deswegen verwenden wir ihn in der Auslegung von Franz Kafka in seinem Tagebuch von 1911/12 weiterhin als Arbeitsbegriff oder als produktives, zeitliches „Grenzobjekt“ („boundary object“) im Sinne von Susan Leigh Star in der Hoffnung, dass wir ihn am Ende nach einem Übersetzungsprozess vom 19. ins 21. Jahrhundert nicht mehr brauchen.
Franz Kafka sprach als Jurist vom „Schema“ der „Kleinen Literaturen“. Nun, in diesem Sinne geht es auch uns um ein übergreifendes Schema, das etwas über kulturelle Asymmetrien aussagt und die Besonderheiten der Entwicklung, der Genre (Essays und Lyrik), der Themen wie Freiheit, die Kultur „Kleiner Nationen“ und Minderheiten sowie Widerstand etc. zentral setzt.
Anhand des Blicks auf die Zeitvorstellungen, die Literaturgeschichten vermitteln, erkennen wir allgemeine Muster über kulturelle Politiken im europäischen Raum. Warum hat man zum Beispiel in sowjetischer Zeit so erbittert über das Barock gestritten, das als Ausweis von Westorientierung galt? Warum gibt es Sprachen, die in Europa als universell gelten und andere als provinziell, obwohl alle gegen Imperialismus sind? Ähnliche Fragen stellen übrigens auch Forschende über Literatur aus ganz anderen Regionen, die etwa die indigene Literatur der First Nations untersuchen. In diesem Sinne haben wir uns entschlossen, weiter dazu zu arbeiten. Hier können wir in einem angeblichen Nischenthema aktuelle Fragestellungen konkret angehen – sprachlich, begrifflich und erkenntnistheoretisch. Es ist gewissermaßen ein sehr konkreter Ansatz, der nicht im Theoriediskurs stecken bleibt, sondern Material in verschiedenen europäischen Literatursprachen vergleichend untersucht und fruchtbar macht. So beabsichtigen wir Vielstimmigkeit auch in eine bessere europäische Theorie über historische kulturelle Vorgänge im 21. Jahrhundert zu verwandeln, denn Theorie hat auch immer einen Ort der Genese, der gerne verwischt wird. Nicht zuletzt werden hier hoffentlich dekoloniale Prozesse am Material verständlicher, die man nicht einfach mit dem Hinweis auf „postkoloniale Theorie“ als angebliches passe partout für kulturellen Prozesse in allen Zeiten und Räumen gleichermaßen wegerklären kann.
Ziel des Workshops „Theorie und Geschichte der ‚Kleinen Literaturen‘“ war es, methodische Instrumente und Begriffe für eine bessere Literaturgeschichte Mittel- und Osteuropas zu bestimmen. Wir wollten einerseits literaturhistorische und zeitliche Prämissen der Literaturgeschichtsschreibung erkunden, um andererseits zu einem besseren Verständnis zu gelangen, wie Historiographie von Literaturen ohne Staatlichkeit, in plurikulturellen Imperien oder unter semikolonialen Verhältnissen besser gelingen kann. Letztendlich ging es dem Workshop auch um eine Demokratisierung von Literaturgeschichte in der Gegenwart und ein besseres Verständnis für die komplexe Kulturgeschichte Europas am Beispiel von Literatursprachen.
Wir haben uns am Ende des Workshops zusammen mit den TeilnehmerInnen vorgenommen, auf einer digitalen Plattform die Ergebnisse nach und nach verfügbar zu machen und zu erweitern. Wir wollen erstens über Begriffsbildung nachdenken, über „Kleine Völker“, „Anerkennung“, „Mitteleuropa“ etc., dann einzelne Fallstudien vorstellen (z.B. die Bosnische, Rumänische, „Galizischen“ Literaturgeschichte), ein Einblick in die Literaturgeschichtstheorien, die aus „Kleinen Literaturen“ kommen, behandeln (Milan Kundera ist hier vielleicht der bekannteste Name) und noch kommentierte Übersetzungen von im Westen unbekannten wichtigen literaturtheoretischen Aufsätzen anbieten (z. B. von Jurij Ševelov oder Oleksandr Bilec’kyj). Wir haben auch schon einen neuen Titelvorschlag für diese Sammlung, den wir gerade noch besprechen.
Seit Oktober 2024 sind Sie in der zweiten Förderphase und führen die Forschungsarbeit zu Ungleichzeitigkeiten und heterogenen Vorstellungen von Zeitlichkeit in Europa fort. Was steht auf der Forschungsagenda von EUTIM II?
Wir sind ein Forschungsprojekt und deswegen haben wir uns vor allem auch die Nachwuchsforderung auf die Fahnen geschrieben. Ein EUTIM-Mitarbeiter der ersten Phase, Bohdan Tokarsky, ist mittlerweile gar Professor in Harvard. Unsere Promovierenden sind engagiert, haben sehr unter dem Krieg gelitten – persönlich, aber auch mit ihren Themen. Es gibt zum Beispiel ein Donbas-Projekt, das so nicht mehr durchgeführt werden konnte, weil die Stadt Bachmut nicht mehr existiert. Bei einem weiteren Projekt zur Geschichte des ukrainischen Kinos der 1960er Jahre konnte der geplante Archivaufenthalt in Kyjiw durch Russlands Invasion nicht stattfinden. Die bereits begonnenen Dissertationen wurden teilweise neu konzipiert und werden jetzt in der zweiten Projektphase fertiggestellt. Neben dem Abschluss der Promotionen ist die Begriffsbildung und die Bündelung zentraler Frage aus dem Feld der Ungleichzeitigkeiten wichtig, die sich aus der Arbeit des Projektes herauskristallisiert haben. Dafür sind Publikationen geplant, aber auch die Projektwebsite wird eine Rolle dabei spielen, Ergebnisse zu dokumentieren.
Für mich persönlich hat in diesen Zeiten die Ideengeschichte eine große Rolle erhalten, auch ein Postdoc-Projekt widmet sich etwa dem russischen Nationalismus. Man glaube bekanntlich lange Zeit, dass wir jenseits der Geschichte und jenseits der Ideologie stehen, aber beides stimmt nicht. Für mich war es die letzten 3 Jahre sehr fruchtbar, Essays und Aufsätze von Autoren aus Mitteleuropa und Ostmitteleuropa aus der Zwischenkriegszeit oder aus dem Kalten Krieg zu lesen. Eine Anregung kam auch aus einem Mitteleuropaprojekt mit einem polnischen Schwerpunkt bei EUTIM. In diesen Aufsätzen werden Themen verhandelt, die heute wieder akut sind. Jerzy Stempowski zum Beispiel sah das 20. Jahrhundert in Szenen in Berdytschew verwirklicht, die er bei einem Besuch der ukrainischen Stadt vor dem 1. Weltkrieg beobachtete. Für ihn wurde die ukrainische Stadt zum Brennglas des 20. Jahrhunderts bis in seine Gegenwart. Ein solches Brennglas suchen wir nicht, aber wir achten auf Ereignisse und Narrative auch in unserer Gegenwart und jüngsten Vergangenheit.
Ist es nicht seltsam, dass „Osteuropa“ für viele Europäer im Westen schon so lange ein unbekannter Raum ist? Meist wird er sogar vom „Globalen Süden“ in der Aufmerksamkeit überholt. Und trotzdem schiebt er sich immer wieder unfreiwillig ins Zentrum der Weltgeschichte.
Herzlichen Dank für die Einblicke in Ihre Forschungen, Frau Professorin Werberger!
(Das Interview erfolgte schriftlich am 24. Juli 2025, Fragen: Katrin Schlotter)
Regionalstudien
Das Verbundprojekt „Europäische Zeiten/European Times – A Transregional Approach to the Societies of Central and Eastern Europe (EUTIM) wird vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) im Bereich Regionalstudien gefördert. Diese Förderlinie hat die theoretische, konzeptionelle, methodische und empirische Weiterentwicklung der area studies zum Ziel. Seit April 2021 erhalten acht Verbund- und vier Einzelprojekte eine dreijährige Förderung im Umfang von rund 20 Millionen Euro.
„Europäische Zeiten/European Times – A Transregional Approach to the Societies of Central and Eastern Europe (EUTIM) ist ein Forschungsverbundprojekt des Lehrstuhls für Osteuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) (Prof. Dr. Annette Werberger, Prof. Dr. Andrii Portnov), dem Lehrstuhl für Literatur und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Potsdam (Prof. Dr. Alexander Wöll) und des Forum Transregionale Studien in Berlin (Georges Khalil). EUTIM analysiert ausgehend von den historischen Erfahrungen und Denkweisen in den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas ungleichzeitige Konzepte von „alt vs. neu“ und „Ost vs. West“ auf gesamteuropäischer Ebene insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart.
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