Zukunftsvorstellungen und Ungleichheit im Maghreb: Interview mit Prof. Dr. Rachid Ouaissa zur Forschung des Merian-Centers in Tunis

Unter dem Motto „Imagining Futures - Dealing with Disparity“ richtete das Merian Centre for Advanced Studies in the Maghreb (MECAM) im März 2023 eine internationale Konferenz in Tunis aus. Über die MECAM-Forschungsschwerpunkte sprachen wir mit Direktor Dr. Rachid Ouaissa.

Prof. Dr. Rachid Ouaissa

Prof. Dr. Rachid Ouaissa, Direktor des MECAM und Leiter des Fachgebiets "Politik des Nahen und Mittleren Ostens" am Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS) an der Philipps-Universität Marburg.

ZARROUKI Mohamed / Production Manager; Gray Pictures Studio

Herr Prof. Ouaissa, nach drei Jahren reger Forschung geht das MECAM nun in die Hauptphase. Bitte erklären Sie kurz das Leitmotiv des MECAM: "Imagining Futures - Dealing with Disparity"

Zukunftsvorstellungen und Ungleichheit sind eng miteinander verbunden. Im Sinne von François Hartog (Régimes d'historicité; 2003) bedeutet eine antizipierte Zukunft immer eine Projektion in die Geschichte. Die Zukunft kann also als ein Konstrukt verstanden werden, das auf der Grundlage alltäglicher und vergangener Realitäten aufgebaut und gedacht wird. Auf wissenschaftlicher Ebene hat das Konzept der „Imagination von Zukunft“ Eingang in eine Reihe von Debatten in verschiedenen Disziplinen gefunden, so auch bei MECAM.

Der „Arabische Frühling“ hat gezeigt, dass wir es mit gärenden Gesellschaften zu tun haben. So gibt es zum Beispiel hinter den institutionellen Fassaden einiger Maghreb-Länder ständige gesellschaftliche Verschiebungen hin zu neuen Konstellationen von Akteuren und ihren manchmal konkurrierenden Agenden. Bei MECAM gehen wir davon aus, dass verschiedene Erscheinungsformen von Ungleichheit diese Verschiebungen in erheblichem Maße bestimmen. Und jede neue Formation ist mit bestimmten Visionen oder Wahrnehmungen der Zukunft oder/und spezifischen Modellen der Gesellschaft verbunden. Es entstehen konkurrierende und oft konfligierende Vorstellungen der Zukunft, die entweder versöhnt werden können (Konsens) oder eben nicht und dies führt zu Konflikten, die manchmal gewaltartig ausgetragen werden.

Bei MECAM erforschen Sie den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Zukunftsvorstellungen. Worauf liegt Ihr Fokus?

Seit unserer Gründung im April 2020 konzentrieren wir uns auf komplexe soziale, politische, kulturelle und wirtschaftliche Prozesse. Dabei stehen Fragen und Anliegen im Fokus, die den Maghreb, den Nahen Osten und Europa trennen und verbinden, etwa Glaubensvorstellungen, Verteilung von Ressourcen und Nachhaltigkeit, kulturelle Transformationen, Migration, Rechtsstaatlichkeit, sozioökonomische Konflikte und (Übergangs-)Justiz sowie Umgang mit gewaltreichen Vergangenheiten.

Ein wichtiger Aspekt für MECAM ist der Transfer unserer Forschungen. Daher organisieren wir verschiedene Veranstaltungen wie Seminare, Vorträge, öffentliche Debatten sowie Traveling Academies, die Forschende miteinander verbinden und Forschungsergebnisse diskutieren.

Die Traveling Academy spiegelt die transregionale und dynamische Dimension des Zentrums wider. Forschende aus dem Maghreb, Europa und dem Rest der Welt nehmen an den MECAM Traveling Academies teil. Sie werden in verschiedenen Ländern der Region und in unterschiedlichen Kontexten organisiert und knüpfen an unterschiedliche Forschungstraditionen an.

Das Format „Rencontres Ibn Khaldun“, in Anlehnung an den maghrebinischen Philosophen und politische Aktivist aus dem 14. Jahrhundert, ist ein prädestiniertes Format für Transfer. MECAM-Forschende treten in Dialog und Austausch mit der Zivilgesellschaft, politischen Entscheidungsträgerinnen und-Trägern und der breiten, nicht akademischen Öffentlichkeit.

Unter dem Motto „Imagine the Future“ fand am 17. und 19. März 2023 in Tunis zum Abschluss der Vorphase eine internationale Konferenz ausgerichtet. Was ist Ihr Fazit?

Bei der Konferenz haben wir die komplexen Prozesse reflektiert, durch die Modelle und Visionen für die Zukunft der Gesellschaft (neu) ausgehandelt werden. Entscheidend ist, dass dieser Prozess der (Neu-)Verhandlung im Kontext der tiefen Ungleichheiten (Disparitäten) gesehen werden muss, die den Maghreb möglicherweise kennzeichnen. Ungleichheiten gibt es in allen Gesellschaften, aber die tunesische oder maghrebinische Perspektive kann neue oder andere Perspektiven und Erfahrungen liefern, sowie gegebenenfalls Modelle für das Nachdenken über Fragen der Ungleichheit und gesellschaftliche Konflikte.

Die Pandemiekrise sowie die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine haben die zentralen Forschungsthemen von MECAM bestätigt. Infolge dessen haben sich verschiedene kulturelle, wirtschaftliche, politische und soziale Disparitäten im heutigen Maghreb vertieft und Ungleichheiten auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene wurden offengelegt und verschärft.

An der Abschlusskonferenz der dreijährigen Projektvorphase (März 2020- April 2024) haben mehr als 70 Forscherinnen und Forscher teilgenommen. Besonders gefreut hat mich, dass auf der Konferenz nicht nur Forschende aus dem Maghreb, dem Nahen Osten und Europa Osten und Europa in Dialog kamen, sondern auch Forschende unseres Partner-Merian-Zentren ICAS:MP mit Sitz in Dehli, Indien und MIASA mit Sitz in Accra, Ghana. Damit haben wir gemeinsam unsere Forschungen um interregionale Perspektiven erweitert. Der deutsche Botschafter in Tunis, seine Exzellenz, Herr Peter Prügel, sagte in seiner Eröffnungsrede: „Die Botschaft ist stolz, das Projekt auf seinem weiteren Weg zu unterstützen“. Dies freut uns und ermutigt uns.

Welchen akademischen Beitrag leistet das MECAM für Deutschland, seine Partnerregion im Maghreb sowie für die Internationalisierung der Sozial- und Geisteswissenschaften?

Seit seiner Gründung im April 2020 hat sich MECAM als eine international anerkannte Forschungsplattform und als erstes Institute for Advanced Studies im Maghreb etabliert. Professor Habib Sidhom, Präsident der Université de Tunis, betonte während der Abschlusskonferenz, dass MECAM eine unverzichtbare Struktur in der tunesischen Forschungslandschaft sei, die entscheidend zur Internationalisierung der tunesischen Forschung beitrage.

Die Erfahrung der letzten drei Jahren hat gezeigt, dass das MECAM auch zur Reduktion von Asymmetrien in der Wissensproduktion zwischen Deutschland und Tunesien, Europa und dem Maghreb beitragen kann. Ein zentrales Ziel für die kommenden Jahre ist es, dass MECAM zu einem intellektuellen Knotenpunkt wird, welcher wegbereitende, international relevante Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu Tunesien, dem Maghreb, in Deutschland und international sichtbarer macht. MECAM hat auch zur Popularisierung der Maghreb-Forschung in Deutschland intensiv beigetragen. In Marburg sind Maghreb-Themen, nicht zuletzt durch die geschaffene Maghreb-Professur, Teil der Bachelor- und Masterstudiengänge.

Herzlichen Dank, für das Interview, Herr Prof. Ouaissa, und viel Erfolg in der Hauptphase!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 28. April 2023, Fragen: Katrin Schlotter)
 

Impressionen MECAM Konferenz

ZARROUKI Mohamed / Production Manager; Gray Pictures Studio

Impressionen MECAM Konferenz

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Merian Centre for Advanced Studies in the Maghreb (MECAM)

Das im April 2020 geründete Merian Centre for Advanced Studies in the Maghreb (MECAM) ist ein Forschungszentrum für interdisziplinäre Forschung und akademischen Austausch mit Sitz in Tunis. MECAM trägt zur Internationalisierung der Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften im gesamten Mittelmeerraum bei. MECAM ist eine gemeinsame Initiative von sieben deutschen und tunesischen Universitäten und Forschungseinrichtungen und wird vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Koordiniert wird das Zentrum von Prof. Dr. Rachid Ouaissa vom Marburger Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS). Partner in Tunesien sind die Université de Tunis, die Université de Sfax. Weitere Beteiligte sind die Universität Leipzig, das German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg und das Forum Transregionale Studien in Berlin.

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