Wie wirken sich globale Dynamiken auf unser Verständnis von kulturellem Erbe aus? Rund um diese Frage richtete das Käte Hamburger Kolleg „inherit. heritage in transformation“ im Juli 2025 eine Podiumsdiskussion aus. Hier einige Eindrücke.
Umweltkrisen, dekoloniale Bewegungen, technologische Fortschritte und geopolitische Umbrüche – komplexe globale Dynamiken prägen unsere Vorstellungen von materiellem und immateriellem Kultrerbe. Seit 2024 analysieren am BMFTR-geförderten Käte Hamburger Kolleg inherit an der HU Berlin Forschende aus aller Welt solche Prozesse. Bei inherit entwickeln Forschende, Kunst- und Kulturschaffende gemeinsam eine neue, transdisziplinäre und praxisorientierte Form der Heritage Studies: Sie rückt geisteswissenschaftliche Perspektiven auf global-gesellschaftliche Umwälzungsprozesse in den Fokus – und stellt damit die Kulturerbe-Forschung auf den Kopf. inherit denkt Kulturerbe über dessen klassisches Verständnis hinaus und nutzt den breiteren Begriff von „heritage“ als Kernkonzept.
Podiumsdiskussion in Berlin
inherit-Direktorin Eva Ehninger
Michelle Mantel
Im Juli kam der international besetzte Wissenschaftliche Beirat von inherit zu Besuch. Ein guter Anlass für das Kolleg, eine Podiumsdiskussion auszurichten: Unter dem Titel Heritage Urgencies: Perspectives from Research in Africa, Asia, Europe and Latin America diskutierten die Mitglieder des Beirats über die Neuausrichtung der Heritage Studies, moderiert von Sharon Macdonald und Eva Ehninger, den Direktorinnen von inherit. Die Veranstaltung, die auch als Livestream zugänglich war, fand am 16. Juli 2025 im Festsaal der Humboldt Graduation School in Berlin statt. Knapp 100 Gäste nahmen daran teil.
„Heritage umfasst sowohl materielles Erbe als auch immaterielles Erbe, etwa kulturelle Güter und Räume, Sprache, kollektive Gedächtnisse sowie erzählte Vergangenheit und Gegenwart. Die Grundlage unserer Arbeit ist, Heritage als etwas nicht Feststehendes zu betrachten, sondern vielmehr als Prozess, als Praxis. Heritage bezieht unterschiedliche Akteurinnen und Akteure über verschiedene Zeiten und geografische Räume hinweg ein“, erläutern die Direktorinnen von inherit. Für beide steht fest: Heritage ist zentral dafür, wie wir uns mit den Herausforderungen der Vergangenheit auseinandersetzen, aber auch dafür, welche Vorstellungen wir von der Zukunft entwickeln.
„Heritage Urgencies“
inherit-Direktorin Sharon Macdonald
Michelle Mantel
Ob Umwälzungen oder Krisen – globale Dynamiken wirken sich darauf aus, was unter Kulturerbe verstanden wird und wie damit umgegangen wird. Wie aktuell die Heritage-Forschung ausgerichtet ist, zeigten die „Heritage Urgencies“, die während der Veranstaltung im Fokus rückten: Heritage als Gegenstand von dominierenden Machtverhältnissen und Hegemonie; die Dekolonisierung auf lokaler und internationaler Ebene; erzwungene Migration und auch der Verlust von Heritage und kollektivem Gedächtnis durch Zerstörung in bewaffneten Konflikten.
Die Veranstaltung, wie auch die Forschung von inherit, widmet sich nicht nur Top-Down-Dynamiken, sondern auch dem, was Menschen aus ihrem Alltag als wichtig für die Zukunft erachten. Das spiegelte sich insbesondere in den Forschungsperspektiven der Beiratsmitglieder Marisa Belausteguigoita Rius, Mahalakshmi Ramakrishnan und Marija Drėmaitė wider. Zudem drehte sich die Diskussion aus um die Frage, wie Heritage-Institutionen auf diese Impulse reagieren, insbesondere in Forschungsimpulsen von Paul Basu und Shouyong Pan.
Geschichte und Identität
Ein Fazit der Diskussion ist: Heritage ist immer Erzählung/ Konstruktion von Geschichte und Identität. Heritage wird von Menschen gemacht und hat immer auch eine Bedeutung über das Menschliche hinaus. Umso wichtiger ist es, Menschen Raum zu geben, ihre eigenen Geschichten zu erzählen – über Identität, Lebenswege, Zugehörigkeit. Wie engagierte Forschung dies ermöglichen kann, zeigt etwa die Case Study von Marisa Belausteguigoitia Rius über die Arbeit mit inhaftierten Frauen in Mexiko.
Ein weiteres Fazit: Erbe geht über das Materielle hinaus. Entscheidend sollte sein, was Kulturerbe für die Menschen bedeutet, die es geschaffen haben oder für die es bestimmt war, so ein Ergebnis der Case Study von Marija Drėmaitė (Fakultät für Geschichte, Universität Vilnius). „Jede Generation entwickelt ihren eigenen Ansatz für lokales oder globales Kulturerbe und für Werte. (…) Je besser wir die Konstruktion von Heritage und die Konstruktion von Werten verstehen, desto besser können wir uns kritisch damit auseinandersetzen und sie mit jeder Generation neu überdenken“, so Drėmaitė.
Heritage – kritisch hinterfragt
Heritage ist, so eine weitere Erkenntnis aus der Diskussion, mit Machtinteressen assoziiert: bewusste, unbewusste und verborgene Interessen spielen eine Rolle in der Schaffung von Heritage. Diese zu verstehen und kritisch zu beleuchten ist eine der wichtigsten Aufgaben der Heritage-Forschung.
So stehen beispielweise einige Ansätze der UNESCO in der Kritik, die in erster Linie Wert auf materielle Authentizität legen. Wie Marija Drėmaitė (Fakultät für Geschichte, Universität Vilnius) formulierte: „Restaurierung erfolgt zuweilen zum Selbstzweck und nicht zum Wohle der der Menschen, die die Objekte nutzen oder besitzen. (..) Zugleich bleibt die UNESCO die wichtigste Institution, wenn es darum geht, weltweit das Bewusstsein für Kulturerbe zu fördern. Aber wenn wir uns Methoden und Konzepte ansehen, dann bedarf es einer ständigen Selbstbewertung, Reflexion, Selbstreflexion und einer ständigen Transformation von Heritage.“
Noch heute tragen dekoloniale Initiativen zuweilen noch koloniale Denkweisen in sich, etwa in einer übermäßigen Vereinfachung der Herkunft kultureller Objekte (cultural belongings). Doch kulturelle Objekte sind selten nur einer Identität zugehörig – sie stehen oft in Beziehung zu mehreren Kontexten. In vielen aktuellen Diskussionen zeige sich, wie Paul Basu, Pitt Rivers Museum, Universität Oxford erläuterte, ein starkes Bedürfnis nach Eindeutigkeit: Menschen wollen genau wissen, was bestimmte Dinge sind, woher sie stammen und wem sie gehören. Dahinter stecke oft die Suche nach Gewissheit. „Doch darin liegt die Gefahr in starre Denkmuster zurückzufallen. Wenn wir Sammlungen jedoch genauer betrachten, fordern sie uns heraus, diese festen Vorstellungen zu hinterfragen“, so Basu.
Verborgenes sichtbar machen
Welche Art von Heritage-Initiativen braucht es also heute und in Zukunft? Heritage-Forschung sollte darauf ausgerichtet sein, das Verborgene sichtbar zu machen und Stimmen hörbar werden zu lassen, die bislang übertönt oder verdrängt wurden. Sie sollte erforschen, wie Heritage-Werte entstehen – immer neu mit jeder Generation, geprägt von individuellen und politischen Werten, sowohl im lokalen als auch im globalen Kontext. Entscheidend sei ein interdisziplinärer Blick, der Wissenschaft und Kunst miteinander verbindet. Das Format der Käte Hamburger Kollegs bietet dafür hervorragende Bedingungen. Paul Basu fasst zusammen: „Die Rahmenbedingungen, die inherit bietet, insbesondere die interdisziplinäre Arbeitsweise und als Schnittstelle zwischen kreativen, künstlerischen Projekten und akademischen Projekten, schaffen aus meiner Sicht einen sehr produktiven Raum. Es ist besonders gewinnbringend für Forschung, Dinge ausprobieren und erkunden zu können, ohne Gewissheit zum Ausgang der Arbeit zu haben, bevor man sie tatsächlich in Angriff nimmt. Ich denke, dieses Programm ist etwas ganz Besonderes – und wir müssen uns weiterhin für solche Initiativen einsetzen. Probleme sind nicht plötzlich verschwunden, bloß weil wir kritisch geworden sind.“
Michelle Mantel
Michelle Mantel
inherit-Direktorinnen Sharon Macdonald (links) und Eva Ehninger (rechts)
Michelle Mantel
Michelle Mantel
Michelle Mantel
Michelle Mantel
Michelle Mantel
Käte Hamburger Kolleg „Heritage in Transformation“
Das BMFTR-geförderte Käte Hamburger Kolleg „Heritage in Transformation“ (inherit) entwickelt eine neue, transdisziplinäre und praxisorientierte Form der Heritage Studies, die geisteswissenschaftliche Perspektiven auf global-gesellschaftliche Umwälzungsprozesse in den Fokus stellt. Das Kolleg adressiert zentrale Fragen unserer Zeit – nach Identität und Differenz, Zugehörigkeit und Eigentum oder dem Verhältnis von Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Nicht zuletzt geht es um die Frage, welche Rolle kulturelles Erbe und Naturerbe sowie deren Wechselwirkungen für die zukünftige Gestaltung sozialer und transkultureller Beziehungen spielen können.
Direktorium: Prof. Dr. Eva Ehninger, Prof. Dr. Sharon Macdonald, Humboldt-Universität zu Berlin
Käte Hamburger Kollegs
Die BMFTR-geförderten Käte Hamburger Kollegs bieten Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die Möglichkeit, frei von vielen Verpflichtungen des Wissenschaftsalltags zu selbst gewählten Themen gemeinsam mit herausragenden nationalen und internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu forschen. Dazu laden die Kollegs Forschende aus aller Welt, sogenannte Fellows, jeweils bis zu zwölf Monate nach Deutschland ein.
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