Imre Kertész Kolleg: Osteuropa-Forschung auf Weltniveau geht weiter

Die ostmitteleuropäische Zeitgeschichte hat sich als Forschungsschwerpunkt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena etabliert – und weit darüber hinaus. Über Schwerpunkte und Pläne des erfolgreich abgeschlossenen Käte Hamburger Kollegs „Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich“ sprachen wir mit Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, Direktor des Imre Kertész Kollegs.

Im Interview: Univ.-Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, Lehrstuhlinhaber Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor des Imre Kertész Kollegs

Wenn Sie zurückblicken, wie war die Ost- und Mitteleuropa-Forschung vor der Gründung Ihres Kollegs aufgestellt?

Direktor Prof. Dr. Joachim von Puttkamer

Direktor Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, Friedrich-Schiller-Universität Jena

FSU Jena/Anne Günther

Nach 1989 gab es viel zu tun: Ein halber Kontinent hatte sich politisch und kulturell geöffnet. Die historische Ostmitteleuropaforschung in Deutschland begann sich aus der Konzentration auf die Geschichte der Deutschen in der Region zu lösen, und sie hat viel dazu beigetragen, politische Debatten um Krieg und Besatzung, NS-Verbrechen oder auch Flucht und Vertreibung auf eine sachliche Grundlage zu stellen. Alte und neue Kontakte zu Historikern in Polen, Tschechien oder Ungarn haben in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle gespielt.

Mit welchem Ziel wurde das Imre Kertész Kolleg gegründet?

Gemeinsam mit dem polnischen Historiker Włodzimierz Borodziej wollten wir einen Ort schaffen, an dem Kolleginnen und Kollegen aus der gesamten Region miteinander ins Gespräch kommen würden. Natürlich haben wir dazu auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern etwa aus Großbritannien, Italien, den USA und Kanada eingeladen. Es ging darum, übergreifende Entwicklungslinien und historische Erfahrungen vergleichend in den Blick zu nehmen und nationale Perspektiven zu überwinden. Anders lässt sich eine genuin europäische Geschichte gar nicht schreiben. Wir haben vier Forschungsschwerpunkte definiert: Umbrüche zur Moderne, Ausprägungen von Staatlichkeit, Krieg und Gewalt sowie Intellektuelle Horizonte. Hinzu kam der übergreifende Bereich Geschichte und Öffentlichkeit, der geschichtskulturelle Innovationen und Kontroversen in der Region aufschlüsselt. Gelungen ist uns diese Vermittlung sowohl mit dem Cultures of History Forum, dem online Publikationsportal des Kollegs, als auch mit einer vierbändigen Handbuchreihe zur Geschichte des östlichen Europa im 20. Jahrhundert.

Wie ist es Ihnen während der 12-jährigen Kolleg-Förderung durch das BMBF gelungen, Ihr Forschungsfeld zu etablieren und international bekannt zu machen? Bitte geben Sie uns zwei, drei Beispiele.

Das Kolleg hatte von Beginn an eine internationale Ausrichtung, allein durch die deutsch-polnische, bzw. ab 2016 deutsch-tschechische Co-Direktorenschaft und auch den international besetzen Beirat. Wir haben immer wieder zügig auf aktuelle Ereignisse in der Region reagiert, zum Beispiel 2014 nach der Annexion der Krim mit unserem Focus „Ukrainian Crisis“, auf den Angriff der ungarischen Regierung auf die akademische Freiheit und konkret unsere Partner-Institution die Central European University, zuletzt 2020 mit dem Focus „Kleio in Pandemia“ im Zuge der Covid-19 Pandemie. Ein Forschungsschwerpunkt der ersten Förderphase war die Geschichte des 1. Weltkriegs in der Region und seiner unmittelbaren Folgen. Die zweibändige Gesamtdarstellung von Włodzimierz Borodziej und Maciej Górny ist inzwischen ein Standardwerk, auch in der englischen und deutschen Übersetzung. Die Idee dazu ist erst aus den Begegnungen hier am Kolleg entstanden.

Unser Namenspatron, der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, hat uns in den Anfangsjahren wohlwollend begleitet. So konnten wir ein Gegengewicht gegen die fortschreitende Politisierung der Geschichtswissenschaft in einigen Ländern der Region bilden. Bedrängte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu unterstützen war uns früh ein Anliegen. Seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine ist dieser Aspekt wichtiger denn je.

Wir haben das enorme Potential der Käte Hamburger Kollegs nach Kräften genutzt, um nachhaltige Kontakte zu knüpfen. Das Alumni-Netzwerk des Kollegs ist neben der publizierten Forschung das nachhaltigste Ergebnis der Förderung, das Netzwerk umfasst mehr als 170 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Und wie geht es jetzt nach der BMBF-Förderung weiter?

Die Friedrich-Schiller-Universität Jena finanziert den Kern des Kollegs, einschließlich einzelner internationaler Fellowships seit Oktober 2022 selbst, eine Evaluation ist für 2025 geplant. Wir haben weitere Forschungsprojekte eingeworben, die über die Zeit der Bundesfinanzierung hinausgehen. Mit dem Schwerpunkt in der Transformationsforschung erhoffen wir uns ein tieferes Verständnis aktueller Probleme, nicht nur der ostmitteleuropäischen Demokratien. In der dramatischen Veränderung der Wissenschaftslandschaft in Russland, der Ukraine und Belarus stärkten wir unseren Fokus auf die Unterstützung ukrainischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (VUIAS, IUFU), aber auch der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial.

Besten Dank für das Interview, Herr Professor von Puttkamer!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 12. September 2023, Fragen: Katrin Schlotter)
 

KHK Jena: Imre Kertész Kolleg: Europas Osten im 20. Jahrhundert

Das Käte Hamburger Kolleg „Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich“ hat zentrale Probleme ostmitteleuropäischer Zeitgeschichte in transnationaler Perspektive erforscht (Laufzeit: 2010-2022). Das Kolleg fragte u. a. nach den Ursprüngen und der Funktion politischer Gewalt im östlichen Europa, nach den Begegnungen des Staates mit seinen Bürgerinnen und Bürgern und nach den Aufbrüchen zur Demokratie. Weitere Schwerpunkte sind die gesellschaftlichen Transformationen und die dahinter liegenden Vorstellungen von Modernität (mehr dazu: Forschungsfelder).

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