Regionalstudien: „Die Produktion von Weltwissen im Umbruch“
Wie hat die BMFTR-Förderung dazu beigetragen, das Forschungsfeld der Regionalstudien strukturell weiterzuentwickeln? Das hat das BMFTR-Projekt „Die Produktion von Weltwissen im Umbruch“ am Leipzig Research Centre Global Dynamics (ReCentGlobe) erstmals erforscht.
Im Interview: Prof. Dr. Matthias Middell, stellvertretender Direktor des Leipzig Research Centre Global Dynamics und Projektleiter des BMFTR-geförderten Projekts „Die Produktion von Weltwissen im Umbruch“.
Die Welt verändert sich und mit ihr die Wissenschaft, die versucht, sie zu begreifen. Herr Professor Middell, lässt sich Wissen über eine so eng verflochtene Welt überhaupt noch fassen?
Prof. Dr. Matthias Middell ist Professor für Kulturgeschichte am Global and European Studies Institute der Universität Leipzig und stellvertretender Direktor des Leipzig Research Centre Global Dynamics und leitet das Projekt „Die Produktion von Weltwissen im Umbruch“
Christian Hüller/Universität Leipzig
Tatsächlich ist es so, dass die Welt inzwischen in einer Weise verflochten ist, dass es problematisch erscheint, einzelnen Regionen oder Prozesse isoliert zu betrachten, auch wenn das für das Finden von politischen Antworten auf akute Krisen eine naheliegende Komplexitätsreduktion scheint. Wir beobachten als Reaktion auf diese Entwicklung die Formierung von Forschungsstrukturen (meist interdisziplinäre Zentren an Universitäten oder außeruniversitäre Institute), die Untersuchungen zu verschiedenen Weltregionen unter einem Dach vereinen und an einer neuartigen Methodologie der transregionalen Studien arbeiten, um diese Verflechtungen angemessen analysieren zu können.
Worum geht es im Ihrem Projekt „Die Produktion von Weltwissen im Umbruch“?
Das BMFTR-geförderte Projekt „Die Produktion von Weltwissen im Umbruch“ (Laufzeit: 1.1.2022 – 30.09.2025) widmet sich der Frage, wie sich Forschungsthemen und die Struktur der Disziplinen der Area Studies in Deutschland seit Mitte der 2000er Jahre durch die Bundesförderung verändert haben. Es geht dabei von dem folgenden Entwicklungsprozess aus:
Regionalstudien als isoliertes Forschungsfeld
Vergleichende Area Studies
Weltwissen als Zusammenführung aller Studien, die die politischen, ökonomischen, kulturellen etc. Verflechtungen aus unterschiedlichen und transregionalen Perspektiven betrachten.
Unser Projekt ging von der Hypothese aus, dass ein langsamer, aber durchgreifender Transformationsprozess in den Wissenschaften erfolgt: von isolierten Regionalstudien hin zu vergleichenden Area Studies, die sich in einem weiteren Prozess zu integrativ gedachtem Weltwissen entwickeln . Unsere quantitativen und qualitativen Erhebungen zu Strukturen, Personen, Projekten und Publikationen in dem weit gefassten Feld des Weltwissens – also aller Studien, die die politischen, ökonomischen, kulturellen, migratorischen Verflechtungen der Welt aus unterschiedlichen (und eben nicht nur außereuropäischen Perspektiven) betrachten – hat diese Hypothese bestätigt und macht auf gravierende Veränderungen aufmerksam: Konzentrationsprozesse an einer kleineren Zahl von Standorten; Differenzierung in eher temporär funktionierende Forschungsschwerpunkte und verstetigte Institutionalisierungen durch Integration in das Lehrportfolio; Intensivierung der Zusammenarbeit mit ausländischen Einrichtungen; gemeinsame Methodenreflexion über transregionale Prozesse anstelle der auf einzelne Regionen spezialisierten Datenerhebungen.
Das Projekt „Die Produktion von Weltwissen im Umbruch“
Die Welt wurde in den letzten 30 Jahren besonders intensiv vernetzt und durch die Mobilität von Menschen, Gütern, Kapital und kulturelle Muster, aber auch Viren „globalisiert“. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Wissensproduktion über eben jene Welt und ihre globalen Zusammenhänge. Das BMFTR-geförderte Projekt „Die Produktion von Weltwissen im Umbruch“ (Laufzeit: 1.1.2022 – 30.09.2025) untersucht diese Auswirkungen mit Blick auf Area Studies, Transregional Studies, Global Studies sowie verwandte Wissensfelder. Das Forschungsprojekt widmet sich der Frage, wie sich Forschungsthemen und die Struktur der Disziplinen der Area Studies in Deutschland seit der Krisendiagnose Mitte der 2000er Jahre und der nachfolgenden Bundesförderung verändert haben. Die erhobenen Datensätze werden bei Publikationen der Projektergebnisse (im Sinne einer Überprüfbarkeit im Review-Prozess) mitgeteilt und mit Projektabschluss (im Sinne einer open data policy) zugänglich gemacht.
Und nun zu ersten Ergebnissen: Wie hat die BMFTR-Förderung dazu beigetragen, das Forschungsfeld der Regionalstudien strukturell weiterzuentwickeln?
Unser Projekt beobachtet Veränderungen im Wissenschaftssystem und macht darauf aufmerksam, was erfolgversprechende Muster sind, aber die Veränderungen müssen an den Standorten der Weltwissenproduktion und über geeignete Förderinstrumente der Wissenschaftspolitik ausgelöst werden. Wir haben die in Deutschland laufende Transformation durch vergleichende Publikationen international eingeordnet und ermöglichen dadurch die Orientierung an Prozessen in anderen Ländern.
Welche Rolle spielen junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der strukturellen Weiterentwicklung der Regionalstudien?
Es ist klar, dass die Transformation der deutschen Regionalstudien zu einer integrierten Weltwissenproduktion auch viel mit einem Generationswechsel zu tun hat, den die Fördermittelgeber durch umfangreiche Drittmittel unterstützt haben. Hier liegt aber auch der Pferdefuß: Temporäre Projekte für drei bis vier Jahre schieben Innovation an, verankern sie aber nicht langfristig. Insofern beobachten wir eine Differenzierung: Einige Standorte machen die Produktion von Weltwissen zu ihrem Markenzeichen, andere bauen ihre Kapazitäten zurück, wenn die externe Förderung nachlässt. Wir beobachten also gleichzeitig Aufschwung und Rückgang, und es wird sehr darauf ankommen, ob das in den letzten 20 Jahren intensivierte Interesse an entsprechender Forschung bestehen bleibt, oder nicht. Eigentlich liegt es logisch nahe, auf die Diagnose multipler Krisen mit einer verstärkten Nachfrage nach entsprechendem Weltwissen zu reagieren, aber das Naheliegende wird leider nicht immer getan. Wir sehen international, dass China erheblich in die Weltwissenproduktion investiert und sich für immer mehr globale Zusammenhänge interessiert, während in den USA Aufsehen erregende Einschränkungen der dort besonders fruchtbaren Area Studies stattfinden.
Welche Weltregionen stehen derzeit im Fokus der Forschung?
Die Bundesrepublik erlebt gerade eine intensive Debatte über die Notwendigkeit, sich zu vielen Konflikten gleichzeitig zu verhalten, und es ließe sich wünschen, dass dafür die Expertise aus den Zentren der Weltwissenproduktion genutzt wird. Dies betrifft natürlich die in der Öffentlichkeit präsenten Konflikte im östlichen Europa und im Nahen Osten, aber es reicht nicht mehr aus, die jeweils regionale Konfliktdynamik zu analysieren, sondern es geht um deren Einordnung in die Interessenlage der vielen Akteure in der internationalen Ordnung. Dann hat eben die Blockade des Schwarzen Meeres für ukrainische Getreidetransporte viel mit der Ernährungslage in Afrika zu tun, und die Erfahrungen mit dem Drohnenkrieg werden auch in ärmeren Ländern mit Blick auf neue Rüstungsanaschaffungen ausgewertet, während der Rückzug von UDSAID viele Entwicklungsprojekte vorläufig austrocknet. Wer sich nicht allein auf militärische Lösung verlassen will, muss diese Zusammenhänge präsent haben und sich auf eine solide Forschung verlassen können.
Wissenschaft soll wirken – nach innen und nach außen. Welchen Stellenwert haben derzeit Formate wie Open Access, Blogs oder Policy Briefs, um Strukturen sichtbar und wirksam zu machen?
Die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Politik wird immer wieder kritisch kommentiert, dabei hat sich in den letzten Jahr sehr viel getan: die Wissenschaftskommunikation hat die nötige Aufmerksamkeit und Professionalisierung erfahren, die Ergebnisse empirischer Studien liegen in Kurz- und Langform, auf Papier und elektronisch, als Blog und als Aufsatz vor, Briefings und Pressemitteilungen, Fernsehauftritte und Podcasts von Forschenden haben zugenommen. Das Problem scheint mir eher in der konzeptionellen Herangehensweise an Weltwissen zu liegen: Es sollte kein Steinbruch sein, aus dem man kleine Kiesel bricht und damit letztlich wieder in das Muster der isoliert vorgehenden Regionalstudien zurückfällt. Vielmehr gilt es, die globale Verflochtenheit der einzelnen Krisen und Konflikte im Blick zu behalten. Dies bewahrt einerseits vor der Illusion, man müsse nur richtig wollen, dann ließen sich Konflikte von heute auf morgen beseitigen, und hilft andererseits gegen die zuweilen ja ebenfalls beobachtbaren Ohnmachtsgefühle gegenüber einer gar nicht mehr intellektuell fassbaren Komplexität.
Die transnationale Zusammenarbeit erfordert gemeinsame Plattformen, Datenbanken und Tools. Inwieweit hat die Förderung den Aufbau oder die Nutzung solcher Verfahren erleichtert?
Das ist eine ganz wichtige und erst in Ansätzen beantwortete Frage: Im Rahmen der Nationalen Forschungsdatenstrategie NFDI ist es gelungen, dem Weltwissen einen Platz im Konsortium der historisch arbeitenden Wissenschaften zu sichern, und die beteiligten Area Studies profitieren von der Professionalisierung des Datenmanagements und dem Aufbau von Repositorien. Aber Weltwissen ist eben auch eine sehr wichtige Ressource, die bei der Positionierung in einer konflikthaften internationalen Ordnungen helfen soll. Ohne Ländergrenzen überschreitende Kooperation geht es nicht, aber die Wissenschaftspolitik nimmt verstärkt die Forschungssicherheit in den Blick. Hier wird es dringend weiter Diskussionen geben müssen, wie diese beiden Tendenzen sinnvoll verbunden werden.
Wenn Sie eine erste Bilanz ziehen: Welche nachhaltigen Strukturen sind heute schon erkennbar? Und was ist aus Ihrer Sicht die Voraussetzung dafür, auch in Zukunft Weltwissen generieren zu können?
Die Initiative des damaligen BMBF, die Regionalstudien kritisch auf den Prüfstand zu stellen und Maßnahmen zur Verbesserung der Situation, die aus der Community selbst vorgeschlagen wurden, zu fördern, war ein voller Erfolg in dem Sinne, dass wir den international zu beobachtenden Transformationsprozess von eher isolierten Regionalstudien zu interdisziplinär zusammenwirkenden Fächern, die gemeinsam Weltwissen generieren, gut bewältigt haben. Allein mit temporärer Projektförderung lässt sich dieser Erfolg aber nicht festhalten. Weder Finanzkrisen noch Umweltkatastrophen, Klimawandel oder die Veränderungen der Welthandelswege lassen sich ohne Expertise für die verschiedenen Weltregionen analysieren. Immer mehr Universitäten verstehen, dass ihre unterschiedlichen Forschungsschwerpunkte nur überzeugend sind, wenn sie sich mit transregionalen Konzepten des Weltwissens verbinden.
Besten Dank, lieber Herr Professor Middell, für Ihre profunde Einschätzung und Einordnung!
(Das Interview erfolgte schriftlich am 4. Oktober 2025; Fragen: Katrin Schlotter)
ReCentGlobe
Das Leipzig Research Centre Global Dynamics (ReCentGlobe), eine zentrale Einrichtung der Universität Leipzig, widmet sich in einer breiten interdisziplinären Kooperation der Untersuchung von Globalisierungsprojekten in Vergangenheit und Gegenwart (siehe Forschungsprofil). Am Zentrum arbeiten mehr als 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Fakultäten und Fächer zusammen. Diese kooperieren bei der Aus- und Weiterbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses mit der Graduate School Global and Area Studies. Das Zentrum verfügt über mehrere Labs für weltweite Kooperationen, Digital Humanities, Wissenschaftskommunikation und Wissenstransfer. Mit seinen Publikationen informiert ReCentGlobe die Fach- und die allgemeine Öffentlichkeit regelmäßig über seine Arbeitsresultate.
Wir bitten um Ihre Mithilfe!
Um diese Website bestmöglich an Ihrem Bedarf auszurichten, nutzen wir Cookies und den Webanalysedienst Matomo, der uns zeigt, welche Seiten besonders oft besucht werden. Ihr Besuch wird von der Webanalyse derzeit nicht erfasst. Sie können uns aber helfen, indem Sie hier entscheiden, dass Ihr Besuch auf unseren Seiten anonymisiert mitgezählt werden darf. Die Webanalyse verbessert unsere Möglichkeiten, unseren Internetauftritt im Sinne unserer Nutzerinnen und Nutzer weiter zu optimieren. Es werden keine Daten an Dritte weitergegeben. Weitere Informationen hierzu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.