Wenn die Worte fehlen – Einblicke in das Kleine Fach „Klinische Linguistik“

Im Rahmen der BMBF-Förderlinie „Kleine Fächer - Große Potenziale“ widmete sich das Projekt  der klinisch-linguistischen Erforschung von Beeinträchtigungen der Wortfindung bei dementiellen Erkrankungen und Schizophrenie.  Was das Kleine Fach „Klinische Linguistik“ in der Sprachtherapie bewirken kann, erfahren Sie hier im Interview mit Projektleiterin Dr. Anna Rosenkranz.

Frau Dr. Rosenkranz, als Sprachtherapeutin und Klinische Linguistin haben Sie von 2018 bis 2021 das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt geleitet. Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Thema Wortfindungsstörung?

Dr. Anna Rosenkranz

Dr. Anna Rosenkranz ist Klinische Linguistin (BKL). Neben der Promotion arbeitete sie von 2010 bis 2015 als Sprachtherapeutin. Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin (aktuell an der Philipps-Universität Marburg) und leitete von 2018 bis 2021 ein vom BMBF gefördertes Projekt zu Beeinträchtigungen der Wortfindung bei Kognitiven Kommunikationsstörungen.

Valery Kloubert

Wortfindungsstörungen sind eines der häufigsten und sehr quälenden Symptome, die durch gestörte Wortverarbeitungsprozesse entstehen, und die als Folge von Kopfverletzungen (Schädel-Hirn-Trauma), zerebrovaskulären Erkrankungen (z. B. Schlaganfälle oder Hirnblutungen), Hirntumoren, degenerativen Erkrankungen des Gehirns (z. B. dementielle Erkrankungen), entzündlichen Erkrankungen (z. B. Multiple Sklerose) oder auch psychiatrischen Erkrankungen (z. B. Schizophrenie oder Depression) entstehen können. Wortfindungsstörungen zeigen sich in der alltäglichen Kommunikation beispielsweise in Form eines stockenden Gesprächsflusses. Sie können die Kommunikation aber auch so stark beeinträchtigen, dass es zu einem sozialen Rückzug der Betroffenen führt.

Wie kann man Beeinträchtigungen der Wortfindung bei Kognitiven Kommunikationsstörungen besser erkennen, insbesondere bei dementiellen Erkrankungen und Schizophrenie?

Nehmen Sie sich gerne eine Minute Zeit für einen Selbstversuch und zählen Sie so viele Wörter wie möglich mit dem Anfangsbuchstaben „S“ auf. Auch für gesunde Sprecher stellt diese sprachliche Aufgabe eine Herausforderung dar. Diese sogenannte Wortflüssigkeitsaufgabe ist Bestandteil vieler sprachlicher und neuropsychologischer Testverfahren. Für die Tatsache, dass diese Aufgabe so häufig eingesetzt wird und auch als diagnostischer Marker für bestimmte Demenzformen gilt, wissen wir jedoch erstaunlich wenig darüber, welche sprachlichen Leistungen hinter dieser Aufgabe stecken. In meinem Projekt habe ich mich mit der Erforschung der zugrundeliegenden Prozesse dieser Aufgaben befasst und verschiedene Auswertungsmethoden erforscht.

Welche Forschungslücke wollten Sie schließen?

Neben der bereits etablierten quantitativen Auswertung gibt es qualitativ ergänzende Auswertungsparameter, die bisher allerdings wenig Anwendung finden. Da die zugrundeliegenden beeinträchtigten Wortverarbeitungsprozesse der beiden Störungsbilder unterschiedlich verortet werden, war anzunehmen, dass eine ergänzende qualitative linguistische Analyse wichtige Erkenntnisse, über die an der Wortflüssigkeit beteiligten, sprachlichen Prozesse liefern. Die Erarbeitung von Diagnostikstandards spielt sowohl für die Klinik als auch für die Forschung eine wichtige Rolle.

Lassen sich Ihre Forschungen auch auf andere Erkrankungen übertragen?

Ja, meine Forschungsergebnisse fließen in das seit 2022 von der DFG geförderte Netzwerk „Kognitive Kommunikationsstörungen bei Schädel-Hirn-Trauma“ ein, dessen Mitglied ich bin. Zudem lassen sich die Ergebnisse auch auf erworbene Sprachstörungen nach Schlaganfall übertragen.

Als wichtiger Wissenschaftstransfer in die sprachtherapeutische Praxis haben Sie eine Informationsbroschüre über Kognitive Kommunikationsstörungen für Betroffene und Angehörige sowie einen Ratgeber zu Kognitiven Kommunikationsstörungen für Betroffene, Angehörige und Sprachtherapeut*innen veröffentlicht. Wie ist die Resonanz?

Die Resonanz ist sehr gut und das große Interesse an diesem Thema zeigt sich auch in der Nachfrage nach Fortbildungsangeboten und weiteren Informationsquellen.

Herzlichen Dank, liebe Frau Dr. Rosenkranz, für die Einblicke in Ihre Forschungsarbeit!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 9. November 2023, Fragen: Katrin Schlotter)

Das BMBF-Projekt "Ergänzende Methoden in etablierten Untersuchungen in der Erkennung von Beeinträchtigungen der Wortfindung bei dementiellen Erkrankungen und Schizophrenie - eine klinisch-linguistische Aufarbeitung"

Das Projekt hat sich auf die klinisch-linguistische Aufarbeitung ergänzender Methoden in der Erkennung von Beeinträchtigungen der Wortfindung bei Kognitiven Kommunikationsstörungen, insbesondere bei dementiellen Erkrankungen und Schizophrenie gerichtet. Gefördert wurde es in der Förderlinie "Kleine Fächer - Große Potenziale" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).

Laufzeit: 01.09.2018 - 31.12.2021.


 

Das Kleine Fach Klinische Linguistik

Die Klinische Linguistik befasst sich mit der Diagnostik und Therapie von Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen bei Kindern und Erwachsenen. Auch Kognitive Kommunikationsstörungen, die aus einer gestörten Zusammenarbeit von Sprache und kognitiven Fähigkeiten entstehen, gehören zum Handlungsfeld. Die Klinische Linguistik ist ein eigenständiges „Kleines Fach“ und beschreibt mit Hilfe linguistischer Arbeitsmethoden u.a. sprachsystematische Störungen und betreibt Grundlagenforschung, indem sie aus der Arbeit an Patientinnen und Patienten Rückschlüsse auf die ungestörte Sprachverarbeitung zieht. Entsprechend ist die Klinische Linguistik inter- und transdisziplinär ausgerichtet: Sie vereint linguistische Theorien, Anwendungsfelder der Medizin und Psychologie sowie methodische Standards aus empirischen Wissenschaften.

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