Entwicklung nachhaltig denken – EXTRACTIVISM erforscht gesellschaftliche Auswirkungen von Rohstoffausbeutung

Viele Länder des Globalen Südens haben sich auf den Abbau und den Export von Rohstoffen – auf Rohstoffextraktivismus – spezialisiert. Doch dieses Entwicklungsmodell hat viele Schattenseiten für Mensch und Umwelt. Wie wirken sich Klimawandel und Nachhaltigkeitsstrategien in Europa darauf aus? Das untersucht das BMBF-Verbundprojekt EXTRACTIVISM in Lateinamerika und im Maghreb.

Im Interview: Dr. Hannes Warnecke-Berger, Projektkoordinator und Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Projektverbundes EXTRACTIVISM.

Lateinamerika und der Maghreb stehen exemplarisch für das Entwicklungsmodell Rohstoffextraktivismus. Warum?

Dr. Hannes Warnecke-Berger

Dr. Hannes Warnecke-Berger (Kassel), Projektkoordinator und Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Projektverbundes EXTRACTIVISM

Dr. Hannes Warnecke-Berger

An was denken wir, wenn wir von Venezuela oder Algerien hören? An Erdöl. Für beide Länder ist der Ölexport prägend. Die Wissenschaft beschreibt eine solche Konstellation mit Begriffen wie Ölstaat oder Petro-Ökonomie. Uns greift das zu kurz. Wir sehen, dass Öl- oder genereller – eine intensive Rohstoffausbeutung – alles durchdringt: Nicht nur den Staat, die Politik und die Wirtschaft. Sondern auch die Gesellschaft, Kultur und sogar menschliches Handeln.

Das Ausleuchten und Verstehen dieser Prägekraft von Rohstoffen wird mit den neuen Nachhaltigkeitsstrategien Deutschlands und der EU immer wichtiger. Viele der Rohstoffe, die wir für die Klima- und Mobilitätswende brauchen, befinden sich in jenen Regionen: Kupfer aus Chile, Phosphate aus dem Maghreb, Lithium aus Bolivien und Argentinien, grüner Wasserstoff aus Marokko oder seltene Erden aus Brasilien. Die wachsende Nachfrage nach diesen Rohstoffen schafft Hoffnung nach wirtschaftlichem Aufschwung und Entwicklung. Wir wissen aber, dass das Gegenteil passieren kann: Oft geht Rohstoffausbeutung mit wachsender Ungleichheit, autoritärer Politik, politischer Instabilität oder sogar gewalttätigen Konflikten einher.

Lateinamerika und der Maghreb werden durch Klimawandel und Nachhaltigkeitsstrategien in Europa herausgefordert. Inwiefern?

Wir sind auf dem Weg in ein post-fossiles Energiezeitalter. Dies hat enorme Auswirkungen auf den globalen Bedarf an Rohstoffen. Was machen Länder wie Venezuela, Algerien, Saudi-Arabien – oder Russland – wenn sie in 30 Jahren kein Öl oder Gas mehr verkaufen können? Und was passiert mit Staaten wie Chile und Bolivien, die dank ihrer Kupfer- oder Lithiumvorräte ihre Einnahmen vervielfachen werden? Unsere Nachhaltigkeitsstrategien werden neue Gewinner und Verlierer schaffen. Das haben wir noch viel zu wenig bedacht. Und das ist gefährlich!

Venezuela und Algerien haben bereits mehrfach gezeigt, dass der Wandel der Rohstoffregime und von Rohstoffabhängigkeiten internationale Krisen provoziert. Heute wird uns das allen durch den Ukrainekrieg sehr bewusst. Unser Projekt sucht mit breiter Kooperation vor Ort und im intensiven Dialog mit beiden Regionen Antworten auf diese Fragen.

Ihre Forschungsergebnisse sind für Politik und Gesellschaft in hohem Maße relevant: Deutschland ist abhängig von Rohstoffimporten und hat ein strategisches Interesse daran, die sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Dynamiken in Rohstoffgesellschaften zu verstehen und einschätzen zu können. Welcher Aspekt ist Ihnen dabei besonders wichtig?

Der Weg in ein post-fossiles Energiezeitalter stellt alle Gesellschaften der Welt vor enorme Herausforderungen, Deutschland und Europa ebenso wie die Länder des globalen Südens. Dieser Strukturwandel birgt Risiken, eröffnet aber auch große Chancen. Deutschland kann mit einer klugen Rohstoffpolitik enorm viel bewirken. Dabei kommen wir allein mit technikbezogenen Lösungsvorschlägen nicht weiter.

Wir müssen als erstes die besonderen und von uns abweichenden Muster von Rohstoffgesellschaften in Politik, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur besser verstehen. Darauf können Kooperationen aufbauen, die die Länder des Globalen Südens nicht auf Rohstoffexport festnageln, sondern Optionen für sozialen und ökologischen Ausgleich, wirtschaftliche Entwicklung und die Stärkung von Demokratie mitdenken. Die große Transformation in ein neues Energiezeitalter kann nur gelingen, wenn wir alle mitnehmen. Nicht nur bei uns, sondern auch in der internationalen Zusammenarbeit. Unsere Forschung mit dem Maghreb und Lateinamerika erfolgt darum auf Augenhöhe. Und erzeugt genau aus diesem Grund beachtliche Ergebnisse und innovative Vorschläge, wie Sie unserer Homepage entnehmen können.

Herzlichen Dank für Ihre interessanten Einblicke, Herr Dr. Warnecke-Berger

(Das Interview erfolgte schriftlich am 27.2.2023, Fragen: Katrin Schlotter)

Das BMBF-Verbundprojekt EXTRACTIVISM

Im Verbund arbeiten die Universität Kassel und die Universität Marburg zusammen. Gemeinsam untersuchen sie im transregionalen Vergleich zwischen Lateinamerika und Maghreb die Krisenszenarien, Wandlungsmöglichkeiten sowie die Beharrlichkeit des Entwicklungsmodells Rohstoffexport vor dem Hintergrund der ökologischen Wende. Damit will es einen Beitrag zur (cross-)area Forschung leisten und Handlungsempfehlungen für Politik als auch für Entwicklungszusammenarbeit generieren.


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