Zusammenhalt in der EU: Wahrnehmung und Handlungsfelder

Wie nimmt die Bevölkerung den Zusammenhalt in der EU wahr? Und wie ließe er sich trotz einer hohen politisch-institutionellen Heterogenität stärken? Das BMBF-Verbundprojekt „PerzepEU – Wahrnehmung und Handlungsfelder“ an der Hertie School untersucht die Bestimmungsfaktoren für die Wahrnehmung des Zusammenhalts in Europa und entwickelt Lösungsansätze für die Politik.

Im Interview: Projektleiterin Prof. Dr. Anke Hassel von der Hertie School/ Dr. Licia Bobzien, Postdoktorandin im Projekt PerzepEU.

Zum Einstieg erst einmal eine grundlegende Frage: Was verstehen Sie unter gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Anke Hassel

Anke Hassel ist Professor of Public Policy an der Hertie School und Kodirektorin des Jacques Delors Centre.

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Nicht erst seit Angela Merkel im Oktober 2021 diagnostizierte, der gesellschaftliche Zusammenhalt stehe auf dem Prüfstand, ist die ‚Erodierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts‘ eine oft gestellte Zeitdiagnose. Der Begriff wird in unterschiedlichen Kontexten, von unterschiedlichen Personen, unterschiedlich genutzt. In unserem Projekt betrachten wir vor allem drei Dimensionen von gesellschaftlichen Zusammenhalt: (i) sozialer Zusammenhalt zwischen Bürger/innen untereinander in Form von Vertrauen in andere Bürger/innen, (ii) politischer Zusammenhalt in der Form von Vertrauen der Bürger/innen in die jeweiligen politischen Institutionen wie das Parlament oder das Rechtssystem, und (iii) institutioneller Zusammenhalt. Hierbei fokussieren wir uns auf die Frage, wie Zusammenhalt, in Form von finanziellen Ausgleichsmechanismen, zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgestaltet werden kann. Diese Dimensionen sind weder erschöpfend noch unabhängig voneinander.

Worum geht es in Ihrem Projekt und wie gehen Sie dabei vor?

Das Projekt besteht aus vier Teilprojekten. Die ersten drei Teilprojekte haben einen wissenschaftlichen Fokus und das vierte Teilprojekt hat das Ziel die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den anderen Teilprojekten zu nutzen, um zu fragen, wie diese von der Praxis, beispielsweise in Form von policy-Instrumenten, umgesetzt werden könnten. Wir arbeiten in dem Projekt somit auf unterschiedlichen Ebenen, stehen aber im kontinuierlichen Austausch und bereichern unsere Forschung gegenseitig.

Im ersten Teilprojekt wird untersucht, wie Bürger/innen ökonomische Bedingungen wahrnehmen und wie diese Wahrnehmungen wiederrum Gefühle von Zusammenhalt beeinflussen. Das zweite Teilprojekt baut darauf auf und fragt: Wie beeinflusst die unterschiedliche Ausgestaltung der europäischen Wohlfahrtstaaten den Zusammenhang zwischen ökonomischen Bedingungen und wahrgenommenen gesellschaftlichen Zusammenhalt? Im dritten Teilprojekt steht die Frage im Vordergrund, wie Zusammenhalt institutionell ausgestaltet werden kann: Wie können Transfermechanismen aussehen, und was kann die Europäische Union von anderen Transfermechanismen lernen? Im praxisorientierten Teilprojekt fragen wir: Welche Policy-Instrumente zur Stärkung dieser drei Spielarten von Zusammenhalt können aus den Forschungserkenntnissen der anderen Teilprojekte abgeleitet werden?

Wie wirkt sich die Wahrnehmung von Ungleichheit auf den Zusammenhalt aus?

Licia Bobzien

Licia Bobzien ist Postdoktorandin im Projekt perzepEU 

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Wir wissen aus bisheriger Forschung, auf der wir aufbauen, dass BürgerInnen wirtschaftliche Kontexte, wie zum Beispiel Einkommensungleichheit, sehr unterschiedlich wahrnehmen. Einige Menschen haben ein sehr gutes Verständnis davon, wie groß Einkommensungleichheiten sind, andere ein weniger gutes Verständnis. Diese Erkenntnis hilft, besser zu verstehen, warum die Kritik am Ausmaß von Ungleichheit in Gesellschaften und der Wunsch nach mehr Umverteilung oft nicht mit tatsächlichen Ungleichheitsdynamiken einhergeht. Die Idee, dass diese Wahrnehmungen relevant dafür sind, wie Menschen über gesellschaftliches Zusammenleben denken und fühlen ist der Ausgangspunkt unserer Forschung. Und das lässt sich auch empirisch zeigen: In einer ländervergleichenden Perspektive sehen wir, dass das Vertrauen in politische Institutionen größer ist, wenn die wahrgenommene Ungleichheit nahe an dem ist, was sich BürgerInnen als Ungleichheitsausmaß wünschen.

Zudem erforschen Sie die Rolle nationaler Wohlfahrtsstaaten und die Möglichkeiten verschiedener Transfermechanismen zur Förderung des Zusammenhalts. Könnten Sie das bitte kurz erklären?

Wohlfahrtsstaaten verteilen ökonomische Ressourcen zwischen Individuen, Regionen oder über die Zeit um. Deutschland hat beispielsweise einen kommunalen Finanzausgleich und einen Länderfinanzausgleich mit dem, im Grundgesetz verankerten Ziel, bundesweit gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Andere föderale Systeme, wie die Schweiz oder Kanada haben ebenfalls Transfermechanismen. Wir interessieren uns dafür, wie diese Transfermechanismen jeweils entstanden und gestaltet sind, um dann zu fragen, was die Europäische Union davon lernen kann. Wir sehen beispielsweise an gegenwärtigen Herausforderungen — wie der Corona-Pandemie oder steigenden Energie- und Verbraucherpreisen —, dass unterschiedliche Europäische Länder sehr unterschiedlich stark von verschiedenen Entwicklungen betroffen sind. Eine Voraussetzung für stärkeren Zusammenhalt zwischen BürgerInnen in verschiedenen Europäischen Staaten als auch zwischen den Europäischen Staaten ist somit, Ausgleichsmechanismen zu schaffen, die BürgerInnen als gerecht wahrnehmen.

Zusammen mit Praxispartnern erarbeiten Sie konkrete politische Vorschläge zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts innerhalb der Europäischen Union. Welche Handlungsfelder/Aspekte sind Ihnen besonders wichtig?

Die Europäische Union hat eine Vielzahl von Instrumenten, die sie zur Stärkung des Zusammenhalts nutzen kann. Beispielsweise zielt die Europäische Kohäsionspolitik darauf ab, das wirtschaftliche Wohlergehen der Regionen in der EU zu verbessern und regionale Ungleichgewichte zu vermeiden. Gleichzeitig stellen die Corona-Pandemie, steigende Energie- und Verbraucherpreise sowie Arbeitsmärkte im Umbruch spezifische Herausforderungen dar, die auch spezifische (politische) Antworten erfordern. Ein wichtiger Aspekt in diesem Kontext ist die Frage, wie die bestehenden Transfer- und Solidaritätsmechanismen ausgeweitet und umgestaltet werden können, um die Ungleichheiten innerhalb und zwischen den EU-Mitgliedstaaten aufzufangen.

(Das Interview erfolgte schriftlich am 21.09.2022)

Förderlinie „Zusammenhalt in Europa“

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Verbundprojekt „PerzepEU“ in der Förderlinie „Zusammenhalt in Europa“. Die mit insgesamt 12 Millionen Euro geförderten Einzel- und Verbundvorhaben aus den Geistes- und Sozialwissenschaften untersuchen während einer dreijährigen Projektlaufzeit den Zusammenhalt in der Europäischen Union (EU) aus interdisziplinärer Perspektive.

Das BMBF-Verbundprojekt PerzepEU

Das Projekt: PerzepEU –Wahrnehmung und Handlungsfelder. Eine Untersuchung zu Bestimmungsfaktoren für die Wahrnehmung des Zusammenhalts in Europa unter Berücksichtigung der Rolle nationaler Wohlfahrtsstaaten sowie zu Möglichkeiten verschiedener Transfermechanismen zur Förderung des Zusammenhalts.

Projektlaufzeit: 01.12.2020 bis 30.11.2023

Koordinatorin: Prof. Dr. Anke Hassel, Hertie School of Governance gemeinnützige GmbH

Projektpartner:

  • European Trade Union Institute (ETUI)
  • Bruno Palier (Sciences Po Paris)
  • Ellen Immergut (EUI Florence)