Politikwissenschaft: Im Interview Dr. Cindy Wittke

Die Hintergründe und Folgen des Ukraine-Kriegs analysieren – welchen Beitrag leisten die Geistes- und Sozialwissenschaften?

Dr. Cindy Wittke, Leiterin Politikwissenschaftliche Forschungsgruppe am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird schon heute, nicht zuletzt vom Bundeskanzler, als Zeitenwende bezeichnet. Mit welchen Folgen rechnen Sie (kurzgefasst) für Osteuropa, das ja ihr Forschungsgebiet ist?

Dr. Cindy Wittke

Dr. Cindy Wittke, Leiterin Politikwissenschaftliche Forschungsgruppe am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)

Juliane Zitztlsperger

Mit umfassenden – für den gesamten post-sowjetischen Raum. Für die Republik Moldau und den Südkaukasus sehe ich zum Beispiel das Risiko erhöhter politischer und militärischer Unsicherheiten. In meiner Forschung beschäftige ich mich u. a. mit Territorialkonflikten in den Staaten des post-sowjetischen Raums. Dazu gehören die Republik Moldau (Transnistrien), Georgien (Abchasien und Südossetien) sowie der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. In allen genannten post-sowjetischen Konflikten – die im Detail betrachtet sehr unterschiedlich sind – spielt Russland als politischer und militärischer Akteur eine entscheidende Rolle. Häufig werden diese Konflikte auch als „eingefroren“ bezeichnet. Der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach im Herbst 2020 oder der russisch-georgische Krieg im Sommer 2008 verdeutlichten jedoch, dass sie nicht eingefroren, sondern äußerst dynamisch sind. Im Nachgang des russisch-georgischen Krieges erkannte Russland dann Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten an; Georgien betrachtet die Gebiete als von Russland besetzt. Russlands Vorgehen in der Ukraine seit 2014 – also seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Ausbruch des gewaltsamen Konflikts im Donbas sowie schließlich der Anerkennung der beiden sogenannten Volksrepubliken – bis zum Angriffskrieg ab dem 24. Februar erscheint wie Teil eines Skripts, das Russland bereits andernorts erprobt hat und das es nun adaptiert und erweitert. So wird voraussichtlich das Potential einer politischen und auch militärischen Eskalation anderer langwieriger Konflikte in der Region wachsen und die Aussicht auf eine friedliche und verhandelte Lösung abnehmen.

Müssen Deutschland und die EU insgesamt Osteuropa mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen?

Auf jeden Fall anders als bislang: In seiner Regierungserklärung vom 27 Februar 2022 stellte Olaf Scholz fest: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“ Diese kontinentale Zeitenwende wird derzeit in zwei für Deutschland wichtigen sicherheitspolitischen Dokumenten vermessen: der in Entstehung befindlichen Nationalen Sicherheitsstrategie für Deutschland sowie dem Strategischen Kompass für Sicherheit und Verteidigung der Europäischen Union (EU). Die am 21. März 2021 vom Rat der EU gebilligten Fassung des Strategischen Kompasses steht eindeutig unter dem Zeichen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. In diesem Kontext bezieht sich das strategische Dokument außerdem auf die Bedrohung für die Stabilität und Sicherheit im gesamten Schwarzmeerraum. Für die östliche Nachbarschaft der EU betont es auch die strategischen Einschüchterungen sowie die Bedrohung der Souveränität und territorialen Integrität der Republik Moldau und Georgiens. Vor diesem Hintergrund gilt es nun weiter zu beobachten, wie die EU – und auch Deutschland – sich zu den kürzlich gestellten Aufnahmeanträgen der Ukraine, der Republik Moldau und Georgiens positionieren werden. Was es für die Sicherheit eines Nachbarlands Russlands bedeuten kann, nicht Teil von EU bzw. NATO zu sein, sollte spätestens am 24. Februar  jedem Europäer klar geworden sein, ebenso, dass ganz Europa bedroht ist.

Was heißt das für die EU-Beitrittsperspektiven für Staaten auf dem Westbalkan?

Es gibt derzeit keine Anzeichen, dass der russische Angriffskrieg hier unmittelbar Auswirkungen haben wird; allerdings sieht man ein gestiegenes Problembewusstsein in Brüssel und auch Berlin bezüglich der stockenden und unvollständigen EU Integration der Staaten auf dem Westbalkan. Wichtig ist unmittelbar, Russlands Einfluss auf Staaten und Territorialkonflikte auf dem Westbalkan im Blick zu behalten. Dabei geht es um die Republik Srpska und den Frieden für Bosnien und Herzegowina seit dem Daytoner Abkommen von 1995 sowie die 2008 erklärte staatliche Unabhängigkeit der Republik Kosovo. Es ist bemerkenswert, dass Territorialkonflikte häufig einhergehen mit Tendenzen zur autokratischen und populistischen Herrschaft, gepaart mit geopolitischen Ambitionen. So ist es bezeichnend, dass in Bosnien und Herzegowina der serbische Landesteil (Republika Srpska) autokratische Tendenzen aufweist und dass Serbien – das weiter aktiv Grenzen in der Region hinterfragt – ein Regierungsmodell mit deutlich autoritären Zügen ausgebildet hat. Die (negativ) unterstützende Rolle Russlands in diesen Entwicklungen war in den vergangenen Jahren evident, und es bleibt offen, wie sich die Situation angesichts der Kriegsentwicklungen weiter gestalten wird. Deshalb wird die EU hier bessere Antworten als bisher finden müssen – sprich, eine rasche Integration jener Länder vollziehen, die dies ernsthaft anstreben, und anderen (Serbien) klar machen, dass sich eine Politik der Äquidistanz zwischen EU und Russland keine politische Option ist. Für die Forschung wiederum ergibt sich u. a. die Herausforderung, aus vergleichender Perspektive innen- und außenpolitische Entwicklungen im östlichen- und südöstlichen Europa zu untersuchen, insbesondere dort, wo sich autokratische Politikmodelle mit ethnischem Nationalismus oder Neo-Imperialismus verbinden und Auswirkungen auf Frieden und Sicherheit haben können.

Wo sehen Sie neuen oder intensiveren Forschungsbedarf für Ihr Institut oder die Osteuropa-Forschung insgesamt?

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird neue Themen und Herausforderungen für die regionalbezogene Forschung in den Vordergrund rücken. Die Kriegsereignisse und die unklaren Konturen einer Nachkriegsordnung sowie einer neuen regionalen wie auch globalen Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitsarchitektur verlangen dabei eine konzeptionelle, methodische und planerische Offenheit.

Die regionalbezogene multidisziplinäre Forschung der Wissenschaftler*innen unseres Instituts ist derzeit sehr stark gefragt, sowohl im wissenschaftlichen Austausch als auch im Wissenstransfer sowie der Wissenschaftskommunikation. Dasselbe gilt für Kolleg*innen anderer regionalwissenschaftlich ausgerichteter Forschungsinstitute. Nicht unerwähnt sollte an dieser Stelle bleiben, dass vor allem die gegenwartsbezogene sozial- sowie rechtswissenschaftliche Forschung mit Fokus auf das östliche und südöstliche Europa in den vergangenen 30 Jahren bis auf wenige universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen vielerorts eher abgebaut als aufgebaut wurde. Eine erste Änderung dieser Tendenz war nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts in der östlichen Ukraine ab 2014 zu erkennen.

Die Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften steht seit dem Beginn des Krieges vor allem mit Bezug auf den post-sowjetischen Raum vor Herausforderungen, wie sie es seit dem Kalten Krieg nicht mehr kannte: Wie können der Leitgedanke „Forschen über und mit der Region“ noch umgesetzt und das stark nachgefragte Wissen generiert werden, wenn Forschungsaufenthalte in Ländern wie Belarus, Russland und die Ukraine auf unbekannte Zeit nicht mehr möglich sind, wissenschaftliche Netzwerke nicht mehr funktionieren, Wissenschaftler*innen aus der Ukraine vor dem Krieg fliehen und Forscher*innen andere Länder aufgrund der immer stärkeren Repressionen Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit erfahren?

Es besteht also ein akuter und unmittelbarer Bedarf an international vernetzter und sichtbarer Forschung sowie neuer Forschungsimpulse in Bezug auf das östliche und südöstliche Europa. Im April 2022 wird das neue vom BMBF geförderte Kompetenznetzwerk „Kooperation und Konflikt im östlichen Europa. Die Folgen der Neukonfiguration politischer, ökonomischer und sozialer Räume seit dem Ende des Kalten Krieges“ – kurz KonKoop – für vier Jahre diese Herausforderungen adressieren. Das IOS ist Teil des Netzwerks, das vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin koordiniert wird. Die weiteren Partner sind das Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig (IfL), der Lehrstuhl für Internationale Beziehungen der Universität Jena, die Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde sowie das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF).

Vielen Dank für Ihre Einschätzung, Frau Dr. Wittke!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 31.3.2022)
 

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