Zwischen Prävention und Sanktion: Wie mit radikalem Islam umgehen?

Das Bedrohungspotenzial durch den islamistischen Terrorismus ist nach wie vor hoch, heißt es im Verfassungsschutzbericht 2022. Doch wann wird welche Form von Gegenmaßnahme ergriffen? Dazu forscht das BMBF-Projekt „Konfigurationen von gesellschaftlichen und politischen Praktiken im Umgang mit dem radikalen Islam“(KURI).

Im Interview: KURI-Projektleiter PD Dr. Martin Kahl. Er ist stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in Hamburg und leitet dort den Forschungsbereich „Gesellschaftlicher Frieden und Innere Sicherheit“.

KURI untersucht, welche Faktoren den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit dem radikalen Islam in den letzten 20 Jahren geprägt haben. Welche Faktoren sind das und haben sich diese in den letzten Jahren verändert?

Dr. Martin Kahl

PD Dr. Martin Kahl leitet das KURI-Projekt und ist stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg und leitet dort den Forschungsbereich „Gesellschaftlicher Frieden und Innere Sicherheit“.

IFSH

Die Problemwahrnehmung auf Seiten der Politik war nach 2001 zunächst stark auf die Bekämpfung des netzwerkartig organisierten „internationalen Terrorismus“ fokussiert, womit der islamistisch motivierte Terrorismus gemeint war. Dementsprechend haben sich auch die Sicherheitsbehörden besser vernetzt. Bei der Gesetzgebung lagen die Schwerpunkte auf der frühzeitigen Erkennung verdächtiger Personen und Handlungen. Hier ging es um die Erhebung und den Austausch von Daten, den Schutz von Grenzen, um Maßnahmen gegen die Terrorfinanzierung, Änderungen des Strafrechts hin zur Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen sowie Änderungen des Staatsangehörigkeits-, Asyl- und Aufenthaltsrechts.

Erst später traten Fragen der Radikalisierung und ihrer Verhinderung hinzu. Hierfür wurden umfangreiche Landes- und Bundesprogramme für Extremismusprävention, Demokratieförderung und politische Bildung aufgelegt. Keine der erwähnten repressiven Maßnahmen ist ohne politische und gesellschaftliche Kritik geblieben, Stichworte waren hier etwa „Überwachungsstaat“ oder „Normalisierung des Ausnahmezustands“. Erwähnt werden sollte, dass in der deutschen Politik die weit überwiegende Zahl ihrer Repräsentanten davor gewarnt haben, „Islam“ und „Islamismus“ gleichzusetzen und die Muslime in Deutschland unter Generalverdacht zu stellen. Deshalb arbeiten auch wir eher mit dem Begriff „Islamismus“, obwohl die BMBF-Förderlinie vom „radikalen Islam“ spricht.

Können Sie diese Kontroversen um den Begriff „radikaler Islam“ einmal kurz erläutern?

Die Benennung und Definition eines Phänomens ist bereits Teil des Umgangs mit ihm. Der Begriff „radikaler Islam“ wird vor allem im angelsächsischen Raum in Diskussionszusammenhängen verwendet, von denen wir uns abgrenzen wollen. Wir versuchen einen offenen Zugang und wollen nicht das „Wesen“ des Islamismus definieren, sondern den Untersuchungsgegenstand durch die Nennung verschiedener Elemente „einkreisen“. Nicht alle Elemente müssen vollständig vorhanden sein, um von „Islamismus“ sprechen zu können. Zur Bestimmung der Elemente folgen wir einem Vorschlag von Armin Pfahl-Traughber (Link zum Beitrag von Armin Pfahl-Traughber). Demnach bedeutet „Islamismus“ die Verabsolutierung des Islam als Lebens- und Staatsordnung, wobei nicht die Volkssouveränität, sondern eine vorgegebene göttliche Ordnung als Legitimationsgrundlage dient, ferner zusätzlich eine homogene und identitäre Gesellschaftsordnung sowie die Durchdringung und Steuerung der Gesellschaft im Namen des Islam. Weitere Elemente sind die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates sowie potenziell Fanatismus und Gewaltbereitschaft.

Unlängst haben Sie den „Research Report Islamismus und islamistischer Terrorismus in Deutschland seit 2001“ veröffentlicht. Was ist Ihr Kernergebnis?

Wir haben gezeigt, wie vielfältig die Aktivitäten von Islamisten in Deutschland und wie sie vernetzt sind. Sie haben über verschiedene Gruppen und Netzwerke viel Missionierungsarbeit geleistet, zum Beispiel über die „Lies!“-Kampagne, später verstärkt über die sozialen Medien. Zwar gab es in Deutschland vergleichsweise wenige islamistische Anschläge, aber eine ganze Reihe von Anschlagsversuchen, die scheiterten oder aufgedeckt wurden. Die durchgeführten Anschläge wurden überwiegend mit einfachen oder leicht zu beschaffenden Mitteln wie Messern oder Fahrzeugen verübt. Seit 2015 wurden die Täter überwiegend vom sogenannten Islamischen Staat angeleitet oder inspiriert. Sobald die Anschlagsvorbereitungen aufwändiger wurden, fielen sie den Sicherheitsbehörden auf - mit Ausnahme des Anschlags vom Breitscheidplatz. Auf den Punkt gebracht: Die Täter waren hoch motiviert, aber wenig versiert in der Umsetzung ihrer Pläne. Zuletzt handelte es sich bei den Tätern mehrheitlich um Geflüchtete, bei denen sich häufig islamistische Motivation und psychische Erkrankungen mischten.

Wie bringen Sie Ihre Forschungserkenntnisse in die Praxis?

Wir arbeiten eng mit Praxispartnern aus den Sicherheitsbehörden und unterschiedlichen Präventionseinrichtungen zusammen. Mit ihnen tauschen wir uns regelmäßig über die Erkenntnisse, die wir in unserem Forschungsvorhaben gewonnen haben, aus. So haben wir den oben erwähnten Report mit Vertretern aus den Sicherheitsbehörden intensiv diskutiert. Entscheidungsträgern in Politik, Verwaltung, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen ermöglicht das Vorhaben über Publikationen in frei zugänglichen Formaten sowie die Entwicklung von praxisorientierten Handreichungen und Workshops, ein detailliertes Bild der Bestimmungsfaktoren im Umgang mit dem Islamismus zu gewinnen. Darauf aufbauend bietet das Vorhaben Politik und Zivilgesellschaft Ansatzpunkte, wie sie die Wirkungen ihrer Praktiken bei zukünftigen Entscheidungen zu einzelnen Maßnahmen und bei der Neu- und Ausgestaltung von Institutionen besser berücksichtigen können. All das wird auf unserer Projektwebsite frei zugänglich zur Verfügung gestellt.

Vielen Dank für die interessanten Einblicke, Herr PD Dr. Kahl!

Das Interview erfolgte schriftlich am 15. August 2023, Fragen: Katrin Schlotter
 

Das BMBF-Projekt KURI

Das Forschungsprojekt „Konfigurationen von gesellschaftlichen und politischen Praktiken im Umgang mit dem radikalen Islam“(KURI) ist ein gemeinsames Forschungsprojekt des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) und des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF). Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von September 2020 bis August 2024 in der Förderlinie „Radikaler Islam“ gefördert.

Projektleitung: PD Dr. Martin Kahl, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH), Hamburg, und Prof. Dr. Julian Junk, Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF), Frankfurt/Berlin

Laufzeit: 09/2020 - 08/2024