Kulturwissenschaften und Geschichte: Prof. Dr. Maren Röger

Die Hintergründe und Folgen des Ukraine-Kriegs analysieren – welchen Beitrag leisten die Geistes- und Sozialwissenschaften?

Russland scheint in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine langsam, aber kontinuierlich auf dem Vormarsch zu sein. Eine vollständige Besetzung des Donbass könnte immer näher rücken. Glauben Sie, dass Präsident Putin seinen Krieg gegen die Ukraine beendet, wenn ihm die vollständige Einnahme des Donbass und Verteidigung der bereits okkupierten Gebiete im Süden gelingt?

Professorin Röger

Professorin Dr. Maren Röger ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europas

B. Bölkow (GWZO)

Dies verneine ich entschieden - und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen hat sich das russische Regime mit den territorialen Zugewinnen seit 2014 bereits nicht zufriedengegeben. Die Art der Kriegsführung, kombiniert mit scharfer Rhetorik, zeigt deutlich, dass es spätestens mit diesem Krieg um die Zerstörung der ukrainischen Eigenstaatlichkeit geht. Zum anderen sehen wir bereits jetzt, dass für die Bewohnerinnen und Bewohner in den eingenommenen und kontrollierten Regionen zwar die bewaffneten Kampfhandlungen enden, aber nicht die gegen sie angewandten Gewaltmittel. Der Krieg wäre also für jene Menschen nur teilweise beendet.

Muss sich die Ukraine und der Westen damit noch auf einen langen Krieg einstellen?

Ja, der Krieg scheint sich festzufressen. Mittlerweile gibt es hohe Opferzahlen auch auf ukrainischer Seite. Ich betone aber, dass selbst im Falle der Beendigung der militärischen Auseinandersetzung eine lange Geschichte der politischen Massengewalt auf uns warten wird. Russland wird der ukrainischen Bevölkerung kein friedliches, selbstbestimmtes Leben unter seiner Flagge gestatten, sondern brutale Unterdrückung. Die Ukrainer*innen werden sich dies nicht bieten lassen. Ein Land mit so starker Tradition des bewaffneten Widerstands gegen Okkupanten und so hoher patriotischer Motivation, die wir in den letzten Monaten sehen konnten, wird sich lange und entschieden wehren.

Russland geht nach den vorliegenden Berichten mit äußerster Brutalität vor – gegen die ukrainischen Verteidiger, aber auch gegenüber den eigenen Soldaten. Ist das ein Muster der russischen oder sowjetischen Kriegsführung generell, mit der Sie sich ja auch beschäftigt haben?

Für Historiker*innen wie mich, die sich mit der Geschichte der Massengewalt im 20. Jahrhundert beschäftigt haben, bedeutet dieser Krieg ein furchtbares Déjà-vu. Russland wendet bereits bekannte Methoden an, darunter die Identifikation, Deportation und im schlimmsten Fall Exekution lokaler Eliten. Damit versucht es, die jeweiligen Gemeinschaften politisch handlungsunfähig, sprich widerstandsunfähig, zu machen. Zudem erschreckt der Zynismus gegenüber der eigenen männlichen Bevölkerung, überwiegend aus den entlegeneren Regionen, aus Minderheiten, und wirtschaftlich Optionslosen, die, schlecht ausgerüstet, als Kanonenfutter in einen Krieg geworfen werden, der sich aus imperialen Fantasien speist.

Warum steht scheinbar die Bevölkerung in Russland ganz überwiegend hinter diesem brutalen Angriffskrieg, der auch schwere Folgen für ihr Leben hat?

Die Formel von der Macht der Propaganda klingt schnell abgegriffen. Daher müssen wir ein Verständnis dafür entwickeln, wie jene funktioniert und wie es sich in Staaten lebt, die von pluralen Informationsquellen abgeschnitten sind. Deshalb empfehle ich allen, insbesondere denjenigen, die den Krieg als eine Art Konflikt nur zwischen Russland und der Ukraine interpretieren, sich Ausschnitte aus Gesprächsrunden im russischen Staatsfernsehen anzusehen, in denen die Chefideolog*innen ihre Allmachtsphantasien immer übersteigerter austauschen. Die Ausschnitte in englischer Sprache veröffentlicht Julia Davis auf Twitter. Jene Propaganda trifft auf den Resonanzboden einer Gesellschaft, in der einer besseren Vergangenheit als sowjetische Großmacht hinterhergetrauert wird, und die im Angesicht der Banalität der alltäglichen Beschränkungen die Vergangenheit immer weiter idealisiert. Hinsichtlich der Ukraine kommt eine über Jahrhunderte eingeübte Überlegenheitsideologie dazu, die die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Kultur und die Berechtigung ukrainischer Staatlichkeit anzweifelt. Schließlich hat das Regime kritische Stimmen immer weiter massiv unterdrückt, so dass das Schweigen auch Angst, und nicht flächendeckend nur Zustimmung geschuldet ist.

Was müssen die EU und die Nato jetzt – abgesehen von der aktuellen Unterstützung der Ukraine auch durch Militärhilfe – perspektivisch tun, insbesondere mit Blick auf die Staaten, die am östlichen Rand der EU noch nicht Mitglieder der Union sind?

Erst einmal sollten EU und NATO die historisch gewachsenen Ängste der Länder im östlichen Europa wahrnehmen, dann verstehen, dass die Idee „neutraler“ Staaten zwischen EU/NATO und Russland ein Irrweg war – in so vielen Hinsichten. In der Erkenntnis eigener Fehleinschätzungen sollten sie alles dafür tun, dass die Ukraine diesen Krieg gegen Russland gewinnen kann, da hier nicht nur ukrainisches Territorium verteidigt wird. Für unabdingbar halte ich außerdem, dass sie in Zukunft mehr in das Wissen der breiteren Bevölkerung über die komplexe Geschichte des östlichen Europas investieren, damit russische Propagandanarrative nicht verfangen.

Was kann die Osteuropaforschung bei uns, aber vielleicht die Wissenschaft insgesamt leisten, um diesen Konflikt besser zu verstehen und die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen? Wo gibt es Defizite?

Selbstreflektion ist in der Wissenschaft unser tägliches Brot. So sind wir zum einen bemüht, unser Schaffen der letzten Jahrzehnte auf Leerstellen zu hinterfragen und noch bessere Formate des Transfers in die breitere Öffentlichkeit zu finden. So arbeitet das Osteuropa-Institut, das ich leite, das GWZO, etwa gerade mit anderen Instituten der Leibniz-Gemeinschaft an e-learning-Kursen zu den Hintergründen des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Zum anderen muss ich in aller Deutlichkeit sagen: Spezialist*innen aus unseren Kreisen mahnen seit Jahrzehnten an, die Erfahrungen und Ängste der Länder Ostmitteleuropas ernst zu nehmen, diese wichtigen Nachbarländer besser kennenzulernen, das östliche Europa aufmerksamer wahrzunehmen und nicht direkt nach Russland zu schauen, das von Teilen der deutschen Politik und Öffentlichkeit idealisiert wurde.

Reicht das?

Wir schreiben bereits kluge Bücher und Aufsätze, wir übersetzen unsere Forschungsergebnisse in breitenwirksame Formate. Institutionen und Einzelforscher*innen machen zusätzlich zur sorgfältigen Grundlagenforschung Ausstellungen, digital und traditionell, drehen Videos für YouTube, twittern, facebooken, instagramen, nehmen Podcasts auf, bieten sich für Volkshochschulen, Schulen und Medien als Gesprächspartner*innen an. Im vielzitierten Elfenbeinturm sitzt doch keiner mehr. Entsprechend sehe ich in unserer Vermittlungsarbeit wenige Defizite, vor allem nicht im Rahmen unserer Arbeitsbedingungen, die oft genug befristete Verträge vorsehen. Ich frage aber zurück, wo es gesamtsystemisch hakt, dass diese von uns bereitgestellte, auch niedrigschwellige, Expertise in Schulunterricht und Medien nur partiell abgerufen, und von der Politik nicht umgesetzt wurde? Es braucht, auch um den Ernst der Frage zu verstehen, nun gemeinsames Engagement, um die Leerstellen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu füllen: Bildung ist auch hier der Schlüssel, damit russische Propagandanarrative nicht ungehindert reüssieren können, aber Bildung – in der Schule und der Erwachsenenbildung -muss sich eine Gesellschaft auch leisten wollen.

Vielen Dank, Frau Professorin Röger!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 12.7.2022)

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