Interview mit Prof. Dr. Markus Gabriel

„Die Pandemie betrifft alle Menschen: Sie beweist, dass wir alle durch ein unsichtbares Band, unser Menschsein verbunden sind“, so eine These von Prof. Dr. Markus Gabriel, Inhaber des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart an der Universität Bonn. Er leitet das Internationale Zentrum für Philosophie NRW und das Center for Science and Thought.

Bitte beachten Sie, dass hier lediglich die Meinung der Interviewten wiedergegeben wird.

Herr Prof. Gabriel, welcher Aspekt der Corona-Pandemie ist aus Ihrer Sicht relevant?

Prof. Dr. Markus Gabriel

Prof. Dr. Markus Gabriel

Christoph Hardt of Future Image & Geisler

Philosophisch betrachtet hat sich die Aussicht eröffnet, moralisch anspruchsvolle Entscheidungen politisch und gesellschaftlich umzusetzen, selbst wenn wir unabsehbare ökonomische Folgekosten in Kauf nehmen. Damit ereignet sich moralischer Fortschritt, indem wir das universale Band des Menschseins anerkennen. Gleichzeitig treten, wie in jeder Krise, trotz aller lokalen Solidarität auch anthropologische Missstände in Erscheinung: Es wird in nationalen Grenzen und teils gefährlichen Stereotypen gedacht. Ich beschäftige mich momentan intensiv mit dem Phänomen der Wirklichkeitskrisen: Bis vor kurzem drohte eine unangebrachte Wissenschafts- und Erkenntnisskepsis, die mit dem Stichwort „post-truth“, „postfaktische Zeitalter“ und den „alternativen Tatsachen“ verbunden war. Urplötzlich scheint sich die Gesellschaft von virologischen Modellen und damit von Computersimulationen leiten zu lassen. Damit treten andere, fundamentale Aspekte des Menschseins in den Hintergrund. Naturwissenschaftlich-technologischer Fortschritt alleine führt keineswegs automatisch zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Wie können Sie/Ihr Fach- oder Forschungsbereich zu einem besseren Verständnis/Umgang mit der Pandemie beitragen?

Wir alle erfahren jetzt täglich, dass die Wirklichkeit stets komplexer ist als unsere Modelle. Damit lernen wir etwas über Wissenserwerb, die Arbeitsteilung der Wissenschaften sowie über die Dynamiken der Digitalisierung. Konkret zeigen philosophische Analysemethoden argumentative Lücken des Umgangs mit der Corona-Krise. Dazu gehört, dass wir zu Recht dem virologischen Imperativ folgen, also um beinahe jeden Preis versuchen, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Gleichzeitig ist die einseitige Orientierung an der Pandemie selbst schon eine Entscheidung, die zur Folge hat, dass viele Menschen leiden und psychische und wirtschaftliche Schäden zu ertragen haben. Damit diese Entscheidung nicht zu unlösbaren ethischen Dilemmata führt, müssen wir eine philosophisch durchdachte Form der Transdisziplinarität zur Anwendung bringen.

Gibt es Lösungsansätze, die stärker diskutiert werden sollten?

Es ist die Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften, bereits jetzt an einem neuen Gesellschaftsmodell zu arbeiten. Das häufig als „neo-liberal“ bezeichnete Programm einer primär ökonomischen Globalisierung kann als gescheitert gelten, da es immer wieder in scharfe Krisen führt und uns zeigt, dass die Marktlogik als Gesellschaftmodell zu kurz greift. Das ist eine Chance für eine neu durchdachte soziale Marktwirtschaft, die sich nicht an einseitigen quantitativen Modellen orientiert. Was das neo-liberale Gesellschaftsmodell mit seinen teils ungerechten globalen Verteilungsketten seit 2008 erwirtschaftet hat, um aus der Finanzkrise zu kommen, muss jetzt vermutlich alles sofort ausgegeben werden. Diese Spielart der ökonomischen Globalisierung ist deswegen auch ökonomisch gescheitert. Wir brauchen m.E. Lösungsansätze, die sich fragen, wie wir die universale Einheit des Menschsseins in all ihren von den Geisteswissenschaften untersuchten Manifestationen zum Leitfaden institutionell getragener Kosmopolitik machen können.

Besten Dank für das interessante Interview!