Interview mit Dr. René Schlott

„Wird die offene Gesellschaft erwürgt, um sie zu retten?“, fragt Historiker Dr. René Schlott in seinem Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ – und fordert zur Debatte über die Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseinschränkungen in Pandemie-Zeiten auf. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung und Habilitationsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Dr. René Schlott, ZZF-Historiker; © Andy Küchenmeister

Dr. René Schlott, ZZF-Historiker

Andy Küchenmeister

Bitte beachten Sie, dass hier lediglich die Meinung der Interviewten wiedergegeben wird.

Welcher Aspekt der Corona-Pandemie ist aus Ihrer Sicht relevant?

Als Historiker weiß ich, wie schnell vermeintlich stabile gesellschaftliche Zustände zusammenbrechen. Ich selbst habe den Zusammenbruch der DDR erlebt. Die massive Einschränkung der Grundrechte könnte dazu führen, dass diese über Jahrhunderte erkämpften Rechte auf lange Sicht Schaden nehmen. Der Staat ist in Versuchung, alle Maßnahmen einzusetzen, um die Menschen vor der Pandemie zu schützen und steht unter Handlungsdruck. Die Diskussion um die Corona-Tracking-App oder auch um die Einführung einer Gesichtsmaskenpflicht gibt die Basis frei für eine nachhaltige Änderung der Grundrechte. Der Mensch wird nur noch als potenzieller Virenüberträger gesehen. Schon jetzt sind die Beschränkungen und deren Folgen massiv, etwa die Schließung der Schulen und Kitas für Kinder aus bildungsfernen Schichten. Ich fürchte, dass sich nicht alles an einem Tag X wieder ausschalten und rückgängig machen lässt. Auch die Schließung von Kirchen halte ich für alarmierend, das gab es so noch nie in der Geschichte Deutschlands. Der Zweck darf nicht die Mittel heiligen.

Wie können Sie oder Ihr Fach- oder Forschungsbereich zu einem besseren Verständnis und Umgang mit der Pandemie beitragen?

Der Blick in die Geschichte ist spannend, oft liefert er Antworten auf die Fragen unserer Zeit, er kann ein Problemlöser der Gegenwart sein. Viele interessieren sich jetzt für die Spanische Grippe vor gut 100 Jahren und für ihren Verlauf in drei Phasen. Als Historiker und als Staatsbürger habe ich das Privileg, Entscheidungen in einer demokratischen Gesellschaft mit Blick auf die Geschichte kritisch hinterfragen zu können, ohne ein Risiko einzugehen. Bei jeder einzelnen Maßnahme, so berechtigt wie sie auch sein mag, ist es wichtig, eine historische Perspektive einzunehmen, zu fragen, ob es hier tatsächlich zu Ausgangsbeschränkungen, zu innerdeutschen Grenzkontrollen oder zur faktischen Aussetzung des Asylrechts kommen darf. Ich vermisse die Bereitschaft zum Diskurs. Auch und gerade in Krisen-Zeiten muss das kritische Hinterfragen all dieser Maßnahmen erlaubt sein und bleiben.

Gibt es Lösungsansätze, die stärker diskutiert werden sollten?

Ich würde dazu raten, jetzt alle verfügbaren Ressourcen auf das Gesundheitssystem zu richten und soziale Auswirkungen stärker in den Blick zu nehmen. Die Politik greift hart in die Grundrechte der Bürger ein, etwa in das Versammlungsrecht oder die Reisefreiheit.

Während der friedlichen Revolution in der DDR wurde in einer Zeit der Unsicherheit ein Runder Tisch gebildet aus allen gesellschaftlichen Gruppen. Genau das würde ich mir jetzt auch wünschen. Das Gremium könnte beratend zur Seite stehen und Empfehlungen geben, wie wir am besten zum Status quo ante Corona zurückkehren. Zudem hoffe ich, dass es eine gesamtgesellschaftliche Verständigung darüber gibt, ob wir zukünftig Pandemien genauso begegnen, wie wir das jetzt tun.

Dr. Schlott, wir danken für das interessante Interview!

Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF)

Das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) erforscht die deutsche und europäische Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert und ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart. Als Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft wird seine Grundausstattung jeweils zur Hälfte vom Bund und von den Ländern getragen. Hinzu kommen Drittmittel, die das Institut für Forschungsvorhaben einwirbt.
Das ZZF arbeitet mit zahlreichen universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen im In- und Ausland zusammen und verfügt über ein international ausgerichtetes Gastwissenschaftler-Programm. Es ist über gemeinsame Berufungen mit der Universität Potsdam und der Humboldt-Universität zu Berlin verbunden und kooperiert in Forschung, Lehre und Nachwuchsausbildung mit zahlreichen weiteren Hochschulen.
Die wissenschaftliche Arbeit des Instituts gliedert sich gegenwärtig in vier Abteilungen sowie die Direktion, die sich mit folgenden Themenbereichen befassen: Kommunismus und Gesellschaft, Geschichte des Wirtschaftens, Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft sowie Regime des Sozialen. Neben der Grundlagenforschung sind die Bereitstellung von Forschungsinfrastrukturen und der Wissenstransfer zentrale Aufgabenfelder des ZZF.


Quelle: Institutswebsite des ZZF