Provenienzforschung: Neue Sonderausstellung im Forum Wissen
Einladung zur Spurensuche: Am 11. Dezember 2025 eröffnet das Forum Wissen der Universität Göttingen die Sonderausstellung „Nachgefragt: Unrecht gesammelt?“. Die Ausstellung zum Thema Provenienzforschung in den Museen und Sammlungen Südniedersachsens läuft bis Mai 2026.
Illustration „Rückgaben“ der Künstlerin Melanie Lüdtke aus Kassel
Forum Wissen/Melanie Lüdtke
Juliane Gehler, Kuratorin der Sonderausstellung „Nachgefragt: Unrecht gesammelt?“ im Forum Wissen der Universität Göttingen.
privat/Juliane Gehler
Wer erzählt Geschichte? Und wem gehört sie? Diese Fragen stehen im Fokus der neuen Ausstellung „Nachgefragt: Unrecht gesammelt?“, die sich der Provenienzforschung widmet – jener Disziplin, die Kunstwerke und Objekte nicht nur betrachtet, sondern hinterfragt. Sie untersucht ihre Herkunft, ihre Wege durch private Sammlungen und öffentliche Museen. Sie fragt, was Besitz bedeutet, wenn Eigentum auf Unrecht gründet, und wie Erinnerung in Objekten fortlebt.
Auf den ersten Blick wirken die ausgestellten Objekte unscheinbar: ein Buch, eine Wäscheklammer, ein schlichter Kleiderbügel. Dinge des Alltags, vertraut und scheinbar banal. Doch hinter ihnen verbergen sich Biografien, Schicksale, Verluste und Erinnerungen. Die Ausstellung lädt dazu ein, genauer hinzuschauen – und in den Dingen jene Geschichten zu entdecken, die in Archiven, Familien und Erinnerungen weiterleben.
„Unsere Sonderausstellung fragt nicht nur danach, wie und von wem diese Geschichten erforscht werden. Sie macht vor allem die Menschen sichtbar, die eine persönliche Verbindung zu diesen Objekten hatten“, betont Juliane Gehler, die die Sonderausstellung im Forum Wissen kuratiert. „Viele dieser Menschen sind nicht mehr da, haben keine oder nur wenige schriftliche Zeugnisse hinterlassen. Umso wichtiger ist es, einen emotionalen Zugang zu ihnen zu schaffen – und dies ermöglichen die großformatigen Illustrationen der Künstlerin Melanie Lüdtke aus Kassel“.
Zu Unrecht gesammelt
Flugblatt Rotfront Arbeiterbewegung
Museum Osterode/Christian Riemenschneider
„Viele der gezeigten Objekte sind aus heutiger Sicht unrechtmäßig in unsere Museen gelangt, sie tragen eine belastete Geschichte in sich“, so die Kuratorin. Während des Nationalsozialismus wurden unzählige Kunst- und Alltagsgegenstände ihren rechtmäßigen Besitzerinnen und Besitzern weggenommen – weil sie Jüdinnen und Juden, Freimaurer oder Mitglieder der Arbeiterbewegung waren.
Einige Objekte gingen direkt an die Museen, um als sogenanntes „Feindmaterial“ inszeniert zu werden. „Ein Beispiel dafür sind vier kommunistische Flugblätter aus dem Bestand des Museums im Ritterhaus in Osterode“, wie Gehler erläutert, „Sie wurden von den Nationalsozialisten bei mehreren Angehörigen der lokalen Arbeiterbewegung beschlagnahmt und sollten ursprünglich auf Wunsch der NSDAP im Museum als feindliche Schriften gezeigt werden, wozu es jedoch aufgrund des beherzten Eingreifens des damaligen Museumsdirektors nie kam“.
Andere wiederum fanden ihren Weg über öffentliche Versteigerungen, Zwischenhändler oder durch mehrere Besitzerwechsel in die Sammlungen – auf scheinbar legalem Wege.
Neben diesen Objekten stehen auch Dinge, die unter Zwang entstanden sind: kleine Gebrauchsgegenstände, von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern heimlich gefertigt, aus dem Bedürfnis heraus, z. B. durch Tausch gegen Lebensmittel die Lebensumstände ein wenig zu erleichtern. „Besonders weit verbreitet in unserer Region sind z.T. bis heute noch einfache Wäscheklammern, die bei den ILSE-Werken in Uslar eingesetzte Zwangsarbeiter aus entwendeten Holzresten herstellten“, sagt Gehler.
Auch der Umgang mit Human Remains sowie Gegenstände aus ehemaligen deutschen Kolonien und ethnologische Objekte werden in der Ausstellung thematisiert. „Eine besondere Rolle in diesem Zusammenhang spielen mehrere ethnologische Objekte, die erst im 20. Jahrhundert über den Tierhandel nach Alfeld gelangt sind“, so die Kuratorin, „Am eindrucksvollsten ist hier wohl ein Krokroti, ein Kopfschmuck aus Arafedern, der von den Kayapó am Rio Xingu, einem Nebenfluss des Amazonas, angefertigt wurde. Er gelangte als Teil der Privatsammlung des ehemaligen Tierfängers Alfred Glenewinkel nach dessen Ableben ins Museum“.
Wie damit umgehen?
Federschmuck vom Museum der Stadt Alfeld
Museum der Stadt Alfeld/Christian Riemenschneider
All diese Geschichten macht die Sonderausstellung „Nachgefragt: Unrecht gesammelt?“ sichtbar – als Erinnerung an das erlittene Unrecht, aber auch als Aufforderung, Verantwortung für die Herkunft unserer kulturellen Zeugnisse zu übernehmen. Wie können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit dem damals begangenen Unrecht umgehen? Lässt sich Leid zumindest teilweise wiedergutmachen, wenn man Raubgut an die Ursprungsgesellschaften zurückgibt? Auch diese Fragen thematisiert die Sonderausstellung. Trotz aller offenen Fragen in der Provenienzforschung – nicht jeder Verdacht ist begründet. In Museen und Sammlungen schlummern noch viele Kulturschätze, die entdeckt und erforscht werden wollen. Es gibt viel zu tun für die Forschung.
Sonderausstellung mit Vorgeschichte
In die Sonderausstellung fließt das Wissen vorheriger Projekte und Forschungen ein: Zum einen sind es die Erkenntnisse von Dr. Christian Riemenschneider, die er seit 2016 im Rahmen des „Erstcheck Provenienzforschung“ in diversen städtischen Museen gewinnen konnte. Zum anderen bezieht sie sich auf die Forschung von Dr. Holger Stoecker zu menschlichen Überresten in den Sammlungen der Göttinger Universität und des Museums am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt in Hamburg.
Die Sonderausstellung im Forum Wissen entstand als Kooperationsprojekt des Landschaftsverbands Südniedersachsen e.V. und der Zentralen Kustodie der Universität Göttingen. Im Rahmen des Vorprojektes „Nachgefragt – Provenienzforschung vermitteln“ fanden verschiedene Pop-Up-Aktionen in Alfeld, Osterode und Uslar statt – nicht zuletzt, um herauszufinden, welche Aspekte zum Thema Provenienzforschung für die Bürgerinnen und Bürger besonders spannend sind. Ihre Antworten finden sich in der Sonderausstellung „Nachgefragt: Unrecht gesammelt?“ wieder.
Vom 12. Dezember bis 17. Mai 2026 läuft die Sonderausstellung im Forum Wissen, Berliner Straße 28, 37073 Göttingen. Ergänzt wird sie durch ein vielfältiges Begleitprogramm. Der Eintritt zur Ausstellung mitsamt Begleitprogramm ist frei.
Die Eröffnung, zu der die Öffentlichkeit herzlich eingeladen ist, findet am Donnerstag, 11. Dezember 2025, um 18.30 Uhr statt. Hier geht’s zum Forum Wissen.
Forum Wissen
Das BMFTR fördert seit 2021 zusammen mit dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur ein Modellprojekt am Forum Wissen der Universität Göttingen. Bis Ende 2026 wird hier erforscht, wie Hochschulsammlungen und interdisziplinäre Forschung in unterschiedlichen Formaten für Wissenschaftskommunikation und Wissenstransfer übersetzt und gesellschaftlich sichtbar gemacht werden können
Das Wissensmuseum der Universität Göttingen ist ein Ort der Begegnung, an dem Wissen vermittelt, reflektiert, diskutiert und geschaffen wird. Im Forum Wissen geht es um die Frage: Wie entsteht Wissen? In den „Räumen des Wissens“ gibt es über 1400 Objekte aus den Sammlungen der Universität zu entdecken. Sonderausstellungen thematisieren, was Wissenschaft und Gesellschaft bewegt. Damit stoßen wir gesellschaftlichen Austausch an und schaffen Räume, in denen Menschen mit verschiedenen Perspektiven voneinander lernen können. Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr geöffnet. Eintritt frei!
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