Auf den Spuren einer Weltreligion: Die „Frühbuddhistischen Handschriften aus Gandhāra“

Eine Sensation: In den 1990er Jahren tauchten im Nordwesten Pakistans und den benachbarten Regionen Afghanistans, der antiken Region Gandhāra, Jahrtausende alte, handschriftliche Texte auf – Texte, die erstmals die frühe Geschichte des Buddhismus auf dem Weg zur Weltreligion bezeugen. Mit dem Akademieprojekt „Frühbuddhistische Handschriften aus Gandhāra“ stehen sie der Welt wieder zur Verfügung.

Stupa von Amluk-dara im Swat-Tal im nördlichen Pakistan

Der Stupa von Amluk-dara im Swat-Tal im nördlichen Pakistan. Man vermutet, dass die Handschriften, die das Vorhaben erforscht, in buddhistischen Bauwerken wie diesem die Jahrtausende überdauert haben.

Fazal Khaliq / Wikimedia Commons

Stefan Baums

Stefan Baums, Ph.D. ist seit 2012 der Arbeitsstellenleiter des Akademievorhabens und unterrichtet am Institut für Indologie und Tibetologie der Ludwig-Maximilans-Universität München Sanskrit, Prakrit und Buddhismus-Studien.

Kittipong Vongagsorn

„Die Schriften reichen bis ins 1. Jahrhundert vor Christus zurück – und sind die ältesten Handschriften des Buddhismus und zugleich die ältesten südasiatischen Handschriften überhaupt“, sagt Dr. Stefan Baums, Arbeitsstellenleiter des Forschungsprojekts der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Rund 150 Gāndhārī-Schriftrollen kamen in den 1990er Jahren durch Zufall ans Licht, beschrieben auf Birkenrinde mit einer Tinte aus Ruß, verfasst in der lokalen Gāndhārī-Sprache und Kharoṣṭhī-Schrift. „Dass sie überhaupt noch erhalten sind, ist dem Klima und den Mönchen zu verdanken, die diese Schriften in Steinkisten, versiegelten Tontöpfen oder anderen Behältnissen in buddhistischen Stupas oder Klöstern bestattet haben“, betont Baums und ergänzt: „Und dass wir diese Schriften seit 2012 in unserem Langzeitprojekt bis zum Jahr 2032 entschlüsseln können, ist ein Glücksfall – für die deutsche und die weltweite Gāndhārī-Forschung.“

Pioniere der Gāndhārī-Forschung

Das fünfköpfige Kernteam an der Ludwig-Maximilians-Universität in München erforscht und entziffert diese bislang unbekannten Gāndhārī-Handschriften, gibt sie heraus, erstellt Nachschlagewerke zu den Handschriften und zum Buddhismus in Gandhāra und stellt sie erstmals der weltweiten Forschung zur Verfügung – gedruckt und online. „Durch das Akademieprojekt ist es uns gelungen, die Gandhāri-Forschung nach Deutschland zu holen und zu internationalisieren“, sagt Baums, der bereits seit 2001 an den Schriften forscht und ein Wörterbuch erstellt. Dabei arbeitet das Team eng mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Lausanne und Seattle zusammen.

„Es ist faszinierend, zweitausend Jahre alte Handschriften zu entziffern. Das Besondere an diesen Schriften ist, dass sie direkte Einblicke in die frühbuddhistische Literatur und zugleich auch in die Einführung der Schrift in Südasien geben. Auf dem Weg von Indien durch Gandhāra nach Zentralasien und China entwickelte sich der Buddhismus zur Weltreligion. Gandhāra spielte dabei eine zentrale Rolle. Dank der Handschriften können wir diesen Weg nun besser nachvollziehen“, betont Baums.

Vom Wort zur Schrift

Karte antike Region Gandhāra in Afganistan

Die antike Region Gandhāra liegt im heutigen Ost-Afghanistan und Nordwest-Pakistan. Sie wird im Süden vom Kabul-Fluss, im Osten vom Indus und im Westen und Norden von hohen Bergen umgrenzt. Indische, iranische und hellenistische Einflüsse führten hier zur Ausbildung einer einzigartigen kosmopolitischen und buddhistisch geprägten Kultur.

Wikimedia Commons

Der Buddhismus entstand im 4. Jahrhundert vor Christus im östlichen Indien und wurde zunächst mündlich überliefert, da dort noch keine Schrift bekannt war. In der Grenzregion Gandhāra, die ihren Reichtum dem Fernhandel auf der Seidenstraße verdankte, hatte man im 1. Jahrhundert vor Christus damit begonnen, die Überlieferung schriftlich festzuhalten. „Anhand der Schriftrollen können wir erstmals sehen, was zu dieser Zeit als Wort des Buddha galt. Wir können erkennen, wie eine religiöse Tradition anfängt, die neue Technik Schrift zu verwenden und wie sie die Texte formt“, erläutert Baums und ergänzt: „Und später sehen wir dann Ausarbeitungen der Texte in der Sanskrit-Sprache oder Übersetzungen in die Sprachen Zentral- und Ostasiens.“ Oder anders gesagt: Dank der Handschriften ergeben sich gänzlich neue Einsichten in die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte des Buddhismus – sie decken regionale Ausprägungen auf ebenso wie neue Bereiche und Strömungen. 

Und es gibt noch einen Grund für die immense Bedeutung der frühbuddhistischen Handschriften aus Gandhāra: Die Verschriftlichung der Texte des Buddhismus setzte einen literarischen und religiösen Innovationsschub in Gang – und trug wesentlich zur Ausbreitung des Buddhismus über Indien hinaus bei, durch die er erst zu einer Weltreligion wurde. „Unter den Handschriften finden sich sowohl bekannte Texte in neuer Fassung als auch Texte, die gänzlich neu sind. Das weckt auch heute ein großes Interesse von Buddhistinnen und Buddhisten, etwa aus Ländern wie Thailand oder China“, so Baums. „Viele sehen darin heilige alte Texte, die die Worte des Buddha verkünden und die verehrungswürdig sind – auch für moderne Gläubige.“

Entzifferung der Schrift

Software Research Environment for Ancient Documents

Das Vorhaben hat eine eigene Editions-Software („Research Environment for Ancient Documents“) entwickelt, die die Forschenden bei ihrer Arbeit unterstützt und die Erstellung interaktiver Online-Ausgaben der Handschriften ermöglicht. Diese Abbildung zeigt die Verknüpfung von Bild- und Textregionen mit einer automatisch generierten Schrifttabelle.

Stefan Baums

Die Handschriften werden sukzessive bearbeitet. Technisches Werkzeug des Vorhabens ist eine eigens entwickelte Editions-Software, die die Forschenden bei der Rekonstruktion und Interpretation der Handschriften unterstützt und die Erstellung interaktiver Online-Ausgaben ermöglicht. All diese Forschungsansinnen gelingen allerdings nur, wenn man Sprache und Schrift (er)kennt.

Inzwischen hat das Forschungsteam einen großen Teil der verblichenen und fragmentarischen Handschriften zusammengesetzt, digital erfasst und entziffert – Rolle für Rolle, Stück für Stück. Was gehört wohin? Welche Inhalte sind noch zu finden? Und haben sie die gleiche Bedeutung? Mit jeder Handschrift setzt sich das Gandhāra-Puzzle weiter zusammen, lernt die Wissenschaft mehr über die längst in Vergessenheit geratene Sprache und Kultur. Und jedes neue Wort fließt in das Dictionary of Gāndhārī ein, das inzwischen mehr als 9.000 Einträge zählt.

Die einzelnen Texte werden dann sorgfältig rekonstruiert, übersetzt, wissenschaftlich kommentiert, paläographisch und sprachlich beschrieben und historisch eingeordnet. „Uns liegt daran, schon Zwischenstufen unserer Arbeit der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Deshalb können die Besucherinnen und Besucher unserer Website auch einen Blick in die Editionswerkstatt werfen“, erklärt Baums. „Wir sind weit fortgeschritten. Die erste Phase unseres Projekts war der Textausgabe gewidmet, wo wir Handschriften, für die wir zuständig sind, nach und nach herausgeben. Diese Phase nähert sich jetzt dem Ende.“

Handschriften und materielle Kultur

Die Texteditionen des Vorhabens erscheinen sowohl in interaktiven Online-Editionen als auch in Druckausgaben (hier eine Tafel mit Transliteration und Übersetzung aus: Andrea Schlosser, Three Early Mahāyāna Treatises from Gandhāra, Seattle: University of Washington Press, 2022).

Die Texteditionen des Vorhabens erscheinen sowohl in interaktiven Online-Editionen als auch in Druckausgaben (hier eine Tafel mit Transliteration und Übersetzung aus: Andrea Schlosser, Three Early Mahāyāna Treatises from Gandhāra, Seattle: University of Washington Press, 2022).

„In der nächsten Phase haben wir uns das Ziel gesetzt, Nachschlagewerke zu Schrift und Grammatik der Texte sowie eine Literatur- und Religionsgeschichte Gandhāras zu erstellen. Bei Letzteren wollen wir die Handschriften auch mit der materiellen Kultur zusammenbringen. Dabei werden wir noch intensiver mit auswärtigen Kolleginnen und Kollegen, Spezialistinnen und Spezialisten für Kunstgeschichte, Archäologie und Religionsgeschichte zusammenarbeiten“, betont Baums. „Ganz besonders wichtig ist uns auch, die Schriften in ihren Herkunftsländern wieder zugänglich zu machen. Die Handschriften, die alle aus der Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan stammen, sind über die Welt verstreut. Eine physische Repatriierung dieser Schriften in die Ursprungsländer ist dadurch erschwert, dass die genaue Herkunft oft nicht nachvollziehbar ist. Mit dem Akademieprojekt machen wir die frühbuddhistischen Handschriften aus Gandhāra jedoch virtuell wieder zugänglich, nicht nur für die Ursprungsländer, sondern auch global.“

Die Handschriften wurden teils als eine Art buddhistische Reliquie in Tontöpfen rituell bestattet

Die Handschriften wurden teils als eine Art buddhistische Reliquie in Tontöpfen rituell bestattet, die wahrscheinlich in Stupas eingemauert wurden. Die Fotografie zeigt eine Sammlung von Handschriften, die jetzt in der British Library aufbewahrt wird, unmittelbar nach ihrer Entdeckung.

University of Washington Press

Die Handschriften sind in der mittelindische Gāndhārī-Sprache und der linksläufigen Kharoṣṭhī-Schrift verfasst.

Die Handschriften sind in der mittelindische Gāndhārī-Sprache und der linksläufigen Kharoṣṭhī-Schrift verfasst. Sie sind oft fragmentarisch und erfordern die Heranziehung von Sanskrit-, Pali- und chinesischen Parallelen zu ihrer Interpretation. Hier fünf Zeilen mit einem Rätselvers aus einem Kommentartext.

Stefan Baums

Kommentar zum buddhistischen Kompendium Saṃgītisūtra

Einige der Handschriften sind sehr umfangreich und gut erhalten, wie hier ein Kommentar zum buddhistischen Kompendium Saṃgītisūtra, der etwa 400 Zeilen umfasst.

Stefan Baums

Stefan Baums, Kelsey Martini und Vinita Tseng

Stefan Baums, Kelsey Martini und Vinita Tseng diskutieren die Lesung und Interpretation einer frühbuddhistischen Handschrift.

Isabella Würthner

Tisch mit alten Handschriften auf Birkenrinde und Laptop

Auf dem Akademientag 2018 in Berlin demonstriert das Projekt, wie aus dem Schreibmaterial Birkenrinde im alten Gandhāra Handschriften produziert wurden und wie Forschende diese heute unter Einsatz moderner Technik entziffern.

Annette Schaefgen

Viele der Handschriften enthalten Texte der frühbuddhistischen Scholastik. Diese Darstellung der Gandhāra-Kunst (im Chazen Museum of Art in Madison) illustriert die traditionelle Vorstellung, nach der der Buddha die Scholastik seiner Mutter Māyā im Trāyastriṃśa-Himmel enthüllte.

Viele der Handschriften enthalten Texte der frühbuddhistischen Scholastik. Diese Darstellung der Gandhāra-Kunst (im Chazen Museum of Art in Madison) illustriert die traditionelle Vorstellung, nach der der Buddha die Scholastik seiner Mutter Māyā im Trāyastriṃśa-Himmel enthüllte.

Wikimedia Commons

. In dieser bildlichen Darstellung des Wettbewerbs (im Museum für Asiatische Kunst in Berlin) lässt der Buddha Feuer und Wasser aus seinen Schultern und Füßen entspringen.

Eine der Handschriften beschreibt einen Wettbewerb um Wunderkraft zwischen dem letztlich siegreichen Buddha und anderen indischen Asketen. In dieser bildlichen Darstellung des Wettbewerbs (im Museum für Asiatische Kunst in Berlin) lässt der Buddha Feuer und Wasser aus seinen Schultern und Füßen entspringen.

Wikimedia Commonsv

„Die frühbuddhistischen Handschriften aus Gandhāra: religiöse Literatur an der Schnittstelle von Indien, Zentralasien und China“

Seit 2012 vervollständigt das Projekt die Edition aller bekannten Gāndhārī-Handschriften aus der Zeit vom 1. Jh. v. Chr. bis in das 3. Jh. n. Chr., trägt zur Erstellung eines Gāndhārī-Wörterbuchs bei und erarbeitet eine Grammatik der Gāndhārī-Sprache, eine Paläographie der Gāndhārī-Schrift sowie eine Geschichte der Literatur und des Buddhismus in Gandhāra. Die Handschriften werden sukzessive ediert, technisches Werkzeug des Vorhabens ist eine digitale Editions-Software, die die Bearbeitung der Handschriften und ihre Veröffentlichung in interaktiven Online-Editionen unterstützt. Das Forschungsvorhaben wird im Rahmen des Akademienprogramms von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften betreut und ist an der Ludwig-Maximilians-Universität in München angesiedelt.
Laufzeitende: 2032