Wissens- und Weisheitsspeicher: Buddhistische Steininschriften in Nordchina
Zwischen dem 6. und 11. Jahrhundert n. Chr. meißelten buddhistische Mönche in China heilige Texte (Sutren) in Stein, um sie für die Nachwelt zu bewahren. Genau das wollen auch die Forschenden der Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Seit 2005 arbeiten sie an der Dokumentation, Interpretation und Publikation dieser teilweise erst in den letzten Jahren wieder entdeckten Inschriften.
Mit den beiden Kolossalzeichen „Standard berichtigt" aus einem klassischen konfuzianischen Text und seinem anschließenden Kommentar in kleinen Zeichen versucht der Zensor Li Bangzhen im Jahr 1579 den bislang buddhistischen Charakter des Tals mit dem Steinsutra zu konfuzianisieren.
HAdW/Buddh. Steinschriften
„Die heiligen und tiefsinnigen Texte, die buddhistische Mönche in China in Stein gemeißelt haben, sind ein Wissens- und Weisheitsspeicher der Menschheit. Sie handeln vom Sinn unserer Existenz in der Welt, von einer richtigen Lebensführung, sie definieren, was Wirklichkeit ist. Und es gibt auch Diskurse über Medizin, Hygiene, Botanik, Philologie, das Verhältnis von Bild und Realität und vieles mehr“, erläutert Professor Dr. Lothar Ledderose, Leiter der Forschungsstelle „Buddhistische Steininschriften in Nord-China“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Seit 2005 arbeiten die Forschenden an der Bewahrung und Erschließung der Schriftzeichen. Dies schließt die raumbezogene Verortung der schrifttragenden Steine und die Vermessung der topographischen Situation, die Herstellung von 3D-Modellen und eine genaue Aufnahme aller Zeichen ein.
Größtes epigraphisches Projekt der Weltgeschichte
Der Leiter des Projekts, Prof. Dr. Lothar Ledderose, freut sich schon auf die weitere Feldarbeit in China.
Hardy Mueller
Die jahrhundertealten, buddhistischen Texte finden sich in Nordchina, teils unter freiem Himmel im gewachsenen Fels, zum Beispiel im Steinsutrental auf dem Berg Tai in der Provinz Shandong. Dort sind auf über 1.800 Quadratmetern 2.500 Zeichen des sogenannten Diamantsutras eingemeißelt, jedes circa einen halben Meter groß. Doch auch auf den Wänden von Kulthöhlen sind sie zu entdecken, hier messen die Zeichen nur rund 2 x 2 cm, sind dafür aber viel zahlreicher. Im Hain des Liegenden Buddha in der Provinz Sichuan zählt man über 400.000 Zeichen, etwa 100.000 davon nimmt allein der umfangreiche Text des Nirvanasutra ein. Im Wolkenheimkloster südlich von Peking schließlich bemeißelten die Mönche standardisierte rechteckige Platten. „Während die meisten anderen Texte aus dem 6. bis 8. Jahrhundert n. Chr. stammen, arbeitete man dort kontinuierlich von 616 bis ca. 1200 und erschuf dabei über 31 Millionen Schriftzeichen. Es ist das größte epigraphische Projekt der Weltgeschichte!“, betont der Kunsthistoriker und Balzan-Preisträger Ledderose.
Über das Ende der Welt hinaus
Warum diese enormen Anstrengungen? „Ein Hauptgrund war die Furcht vor dem Weltuntergang. Den stellte man sich allerdings nicht als punktuelles Ereignis vor, wie den Jüngsten Tag in der christlichen Religion, vielmehr kulminierte eine längere Periode der Endzeit, die nach einer üblichen Berechnung im Jahr 553 begonnen hatte, in apokalyptischen Feuerstürmen schließlich im Ende der Welt, wie wir sie kennen“, erklärt Ledderose und ergänzt: „Allerdings gingen die buddhistischen Mönche davon aus, dass irgendwann ein neues Weltzeitalter heraufkommt, und dann die im Granit erhaltenen Texte den Menschen von den Lehren des Buddha künden. Die Mönche hatten übrigens keinen Zweifel, dass die Menschen des kommenden Weltzeitalters chinesisch lesen können.“
Enge Zusammenarbeit mit China
Eine Passage von 52 Schriftzeichen ist zweimal auf den Bergen in Shandong eingemeißelt. Sie handelt von der Natur des Buddha und lehrt, wie man über ihn meditieren soll. Diese Version auf dem Wasserbüffelberg stammt von ca. 560.
HAdW/Buddh. Steinschriften
Das Projekt der Heidelberger Akademie hat drei wesentliche Ziele: Dokumentation, Interpretation und Publikation. „In allen drei Bereichen arbeiten wir eng mit chinesischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammen“, so Forschungsstellenleiter Ledderose. „Wir klettern mit ihnen auf die Berge, vermessen und entziffern die zum Teil verwitterten Inschriften, fotografieren sie nach allen Regeln der Kunst, erstellen bisweilen auch Scans und lesen und dokumentieren die Texte dabei so genau, wie es noch nie gemacht wurde. Noch nicht übersetzte Texte übersetzen wir.“ Nicht umsonst gilt das Projekt als eine der größten und erfolgreichsten Kooperationen zwischen Deutschland und China auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften.
Publikationsreihe Buddhist Stone Sutras in China
Auch bei der Interpretation ist die Zusammenarbeit eng. „In den verschiedenen Provinzen Chinas konnten wir jeweils die besten Expertinnen und Experten für unser Projekt gewinnen. Manche von ihnen waren, zum Teil mehrere Monate, in Heidelberg, wo wir alle Fragen im Detail und auf Augenhöhe diskutieren konnten. Aber auch Spezialistinnen und Spezialisten aus den USA und aus England schreiben Beiträge in unseren Bänden, und wir versichern uns des enormen buddhologischen Wissens in Japan“, so Ledderose.
Publiziert werden die jeweils rund 500 Seiten umfassenden Bände gleichzeitig in Deutschland und in Hangzhou in der Volksrepublik China. Beide Ausgaben sind bis auf den Umschlag identisch. In allen Bänden ist der Text durchgehend zweisprachig, auf Englisch und Chinesisch. Bereits der erste Band der Sichuan-Serie erhielt 2014 in Berkeley den Toshihide Numata Book Award in Buddhism als weltweit bestes Buch des Jahres auf dem Gebiet der Buddhismus-Studien. Inzwischen sind acht Bände erschienen, der neunte ist auf dem Weg nach China, ein weiterer steht kurz vor der Fertigstellung.
„Indem wir dieses Erbe erforschen und in der Welt bekannter machen, wirken wir daran mit, die darin Gestalt gewordenen humanen Werte zu erhalten und zu pflegen.“
Prof. Dr. Lothar Ledderose
„Bisher waren wir jedes Jahr ein bis zweimal in China. In Corona-Zeiten war das nun nicht mehr möglich, aber wir können einige unserer ehemaligen Heidelberger chinesischen Studenten bitten, vor Ort für uns zu recherchieren“, so Ledderose, „Irgendwann jedoch, so hoffen wir, werden wir auch selbst wieder an den steinernen Schriften arbeiten können“. Denn nicht zuletzt gilt es, die buddhistischen Inschriften Nordchinas als Zeugnisse des kulturellen Erbes der Menschheit zu bewahren.
Drei Mitarbeiterinnen im deutsch-chinesischen Team dokumentieren die auf dem Gipfel des Berges Culai in der Provinz Shandong eingemeißelte Passage aus einem Sutra. Das Datum ist oben rechts zu lesen: "Erstes Jahr der Ära Wuping." Das entspricht 570 n.Chr.
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Über eine Felsplatte von über zweitausend Quadratmetern auf dem heiligen Berg Tai in Shandong strömen die um 580 eingemeißelten Zeilen des Diamantsutras wie Kaskaden auf den Leser zu.
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Die beiden Zeichen „Buddha" (oben) und „Netz" (unten; hier phonetisch: luo) sind wie alle der eineinhalb tausend erhaltenen Zeichen des Diamantsutras jeweils etwa einen halben Meter groß. Das untere Zeichen „Netz" wurde über eine Felsstufe hinübergemeißelt.
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Es handelt sich beides Mai um dasselbe Zeichen „Mensch" im Diamantsutra. Oben ist es dreidimensional in den Granit gehauen, unten nicht vollständig zu Ende geschnitten.
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Mit Tusche betupfte Papierbahnen machen die Schriftzeichen im Fels besser sichtbar.
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Herr Lai Fei vom Museum für die Kunst der Steinbearbeitung in Jinan stellt auf dem Diamantsutra eine Abreibung des Zeichens „Sutra" her.
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Die fadenartige Kursivschrift des Präfekten Cui Yingqi, der 1591 die kosmische Aura im Tal des Diamantsutras besingt, lässt an seinen Namensvetter Cui Yuan denken, der bereits um 200 n.Chr. über diesen Schriftstil schrieb: „Von ferne sieht er aus wie ein Wasserfall, der über eine Felswand herabschießt. Doch schaut man von der Nahe, so erkennt man, dass kein einziger Strich geändert werden kann."
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“In der Feme das Meer schauen" lautet die Inschrift, die Yuan Hongyu, der staatliche Erziehungsbeauftragte für Shandong, am 19. März 1562 auf dem Gipfel des Berges Tai schrieb. Später im Jahr schrieb er in der gleichen mächtigen Handschrift ein Kolophon zum Diamantsutra
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„Hohe Berge, fließendes Wasser" lautet der Titel der Inschrift des Spitzenbeamten Wan Gong—er war Vizekriegsminister und Vizezensor—von 1572. Mit über 22 m² ist sie die größte Inschrift im Steinsutratal (natürlich mit Ausnahme des Sutras selbst).
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Eine unserer Mitarbeiterinnen mit ihrem Zeichenbrett vor dem Diamantsutra. In der Gesamtschau sind die großen Schadstellen in der Felsoberfläche sichtbar.
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Eine Mitarbeiterin vermisst die Schriftzeichen des 1857 eingemeißelten Kolophons: „Ein klarer Klang buddhistischer Chöre."
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Eines der letzten neben dem Diamantsutra eingemeißelten Gedichte stammt von dem marxistischen Intellektuellen Guo Moruo, dem Präsidenten der chinesischen Akademie der Wissenschaften von der Gründung der Volksrepublik 1949 bis zu seinem Tod 1978. In seiner erratischen Handschrift beschwört er 1961 die Hoffnung, dass das Sutra von nun an nicht weiter Schaden nehmen möge.
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Im Hain des Liegenden Buddha in der Provinz Sichuan mit der Kolossalstatue aus dem 8. Jahrhundert sind in Höhlen im Fels Sutratexte mit über 400.000 Schriftzeichen eingemeißelt.
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Das Akademieprojekt „Buddhistische Steininschriften in Nordchina“
„Buddhistische Steininschriften in Nord-China“ ist ein Projekt der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Aufgabe der im Jahr 2005 eingerichteten Forschungsstelle ist eine vollständige und systematische Dokumentation, Interpretation, Publikation dieser teilweise erst in den letzten Jahren wieder entdeckten Steininschriften. Das Vorhaben wird noch bis 2028 im Akademienprogramm gefördert.
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