Disziplinierung der Pflanzen: zwischen Ästhetik und Zweck

Die Pflanze hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Konjunktur als Ideengeberin für die künstlerische Form. In Kunsthochschulen und im Kunstgewerbe kursierten Vorlagenwerke, deren kulturelle Bedeutung bislang wenig erforscht wurde.

Buchcover

Jorinde Voigt/VG Bild-Kunst, Bonn 2020; Deutscher Kunstverlag; Eggers & Diaper

Das neulich im Deutschen Kunstverlag erschienene Buch «Disziplinierung der Pflanzen. Bildvorlagen zwischen Ästhetik und Zweck» von Frau Dr. Weiss liefert einen Beitrag zur Theorie und Geschichte vegetabiler Bildvorlagen und stellt sie erstmals in einen größeren kulturhistorischen Zusammenhang.

Diese Publikation entstand im Rahmen des BMBF-geförderten Verbundprojektes „Bildvorlagen“ (2017-2020), das in einer Kooperation des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin mit dem Archiv der Universität der Künste Berlin und dem Münchner Stadtmuseum durchgeführt wurde.

Von der Mitte des 19. bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein wurden vegetabile Bildvorlagen zum Studium und zur Anregung in Kunst und Kunstgewerbe im großen Stil gesammelt. Zum Schutz und der besseren Handhabbarkeit halber montierte man sie auf Kartons und legte sie den Studierenden zum Abzeichnen und zum Nachvollzug gestalterischer Belange in der Kunstlehre vor. Die zahllosen Bilder auf Kartons – Fotografien, Zeichnungen, Reproduktionsgrafik und aus gedruckten Vorlagenwerken herausgetrennte Seiten – sind Teile eines größeren Repertoires an Lehrmaterialien, wie sich aus den historischen Quellen rekonstruieren lässt. Zum Einsatz kamen auch Herbarien, galvanisierte Plastiken, Bronzemodelle und Gipsabgüsse, Nasspräparate und lebende Pflanzen, die man im Umland sammelte oder eigens für die Lehre in Beeten anpflanzte.

Im Mittelpunkt der Publikation steht die wenig untersuchte Gattung der Bildvorlage als ein spezifischer Typus didaktischer Bildlichkeit wie auch die Wissensfigur der Pflanze als Impulsgeberin für gestalterische Prozesse. Das Vegetabile erweist sich in seiner ständigen Rückbindung an die Praktiken des Kultivierens und der Hervorbringung von Kultur als Modell sozialer, politischer und erzieherischer Auffassungen. In den Fokus geraten Vorstellungen von kultureller Erneuerung, die mit dem steten Rhythmus des Keimens, Wachsens und Blühens der Pflanze verbunden sind. Das Bild der Pflanze entfaltet sich dabei am Kreuzungspunkt von Botanik und Ästhetik, von Technik und Kunst wie auch von Natur und Politik. Selbst harmlose Blümchenbilder können zu Instrumenten politischer Macht werden und in deren Kategorien formatiert werden. Bis in die Gegenwart hinein lassen sich die ästhetischen und wissenschaftlichen, die politischen und technischen Disziplinierungen pflanzlichen Lebens nachzeichnen. Dabei wird eine Bildgeschichte der Pflanze aufgeblättert, deren kulturelle und symbolische Reichweite unverkennbar ist. Die Bildregie des Buches hebt das Randständige, Marginalisierte auf Augenhöhe – jene stillen Mitwesen, die wir oft gar nicht wahrnehmen, obwohl sie uns täglich umgeben. Es sind keine spektakulären Gewächse, sondern größtenteils Wiesenblumen und Wildkräuter, die bildwürdig geworden sind.

Autorin: Frau Dr. Judith Elisabeth Weiss

Informationen zur Person:

Dr. Judith Elisabeth Weiss ist Kunsthistorikerin und Ethnologin und forschte mehrere Jahre am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin zur kulturellen Bedeutung der Pflanze. Sie ist Autorin zahlreicher Aufsätze zur Gegenwartskunst und hat zuletzt den Band "Von Pflanzen und Menschen. Leben auf dem grünen Planeten" (2019) mit herausgegeben.