Wortgeschichte(n): das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch

Der Wortschatz des Frühneuhochdeutschen hat Jahrhunderte überdauert und ist noch heute in Gebrauch, allerdings in erstaunlich anderer Bedeutung. Was Worte über das Denken und Fühlen einer Epoche aussagen, zeigt das Akademienprojekt „Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch“ an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Es rückt den Menschen und sein Sprechen in den Fokus.

ein Wörterbuch und ein aufgeklapptes Buch mit einem Monitor

Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch schafft den Spagat zwischen Printausgabe und Online-Version.

FWB

Sprachliche Zeugnisse vergangener Zeit liefern die Basis jedweder historischer Forschung und jedweden historischen Wissens. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch erfasst das Hochdeutsche (im sprachgeographischen und -soziologischen Sinne) von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, genauer gesagt, den alphabetisch geordneten Wortschatz des Frühneuhochdeutschen und seiner wichtigsten Varietäten, darunter Dialekte, Fachsprachen oder Soziolekte.

Außergewöhnlicher ‚Lückenfüller‘

„Als historisches Sprachstadienwörterbuch füllt das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch die Lücke zwischen den Wörterbüchern des Mittelhochdeutschen und dem Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm“, sagt Prof. Dr. Oskar Reichmann, einer, wenn nicht der „Gründer“ des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs. 1977 hat er das Wörterbuch konzipiert und das Quellenkorpus zusammengestellt. Von 1985 bis 2012 haben Oskar Reichmann, Anja Lobenstein-Reichmann, Oliver Pfefferkorn, Joachim Schildt und Vibeke Winge gut die Hälfte des Werkes erarbeitet, großenteils privatwissenschaftlich ohne Förderung.

Im Fokus: der Mensch und sein Sprechen

Seit 2013 ist das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch Teil des Akademienprogramms; es wird von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen betreut. Das Wörterbuch, das 2027 abgeschlossen sein wird, erfasst weit mehr als Wörter. „Es rückt den Menschen und sein Sprechen in den Fokus: Wir erfahren unendlich viel über das Leben der Menschen und wie sie es in Worte gefasst haben“, hebt Prof. Anja Lobenstein-Reichmann, Arbeitsstellenleiterin des Projektes, hervor. „Und das ist von großer Bedeutung, denn ab Mitte des 14. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die historischen, sozialen, ökonomischen und geistigen Grundlagen der neuzeitlichen bis hin zu unserer gegenwärtigen Kultur gelegt“, erläutert Lobenstein-Reichmann.

Mehr als nur Wörter

Der Wortschatz des Frühneuhochdeutschen ist in seiner Gesamtheit noch heute im Gebrauch – und doch hat sich seine Bedeutungswelt über die Jahrhunderte gewandelt. „So wurden Tod und Leben in dieser fundamental religiös geprägten Sprachwelt ganz anders ausgehandelt“. Ein gutes Beispiel ist das Wort „Leben“, dessen Gebrauch damals anlässlich wiederkehrender Hungersnöte, Pestepidemien und Kriege vor allem vom Kampf ums Überleben geprägt und von der Sorge um das Seelenheil durchzogen war. „Um es prägnant zu formulieren: Beim Leben ging es nicht wie heute darum, das Leben zu genießen oder gar sich selbst zu verwirklichen. Es war stets ausgerichtet auf den jederzeit drohenden Tod, der im Hinblick auf das Seelenheil zur ewigen Verdammnis führen konnte.“ All das sieht man auf einen Blick im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch.

Unverzichtbares Nachschlagewerk

Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch ist ein Grundlagenwerk und richtet sich an all diejenigen, die sich – gleich welcher Disziplin – mit der Sprache und Kultur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit auseinandersetzen. Als Basis des Wörterbuchs dienen literarische Texte ebenso wie theologische und didaktische Texte oder Rechts- und Wirtschaftstexte. -- Die gedruckte Fassung des FWB erscheint beim Verlag Walter de Gruyter in Berlin.

Frühneuhochdeutsch online

Seit März 2017 ist das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch online verfügbar (fwb-online.de). Es wird seither stetig ausgebaut. „Wörterbücher treten aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft heraus, sie sind einsehbar und benutzbar und erfahren als Ergebnis der neuen Darbietungsmöglichkeiten eine ungeahnte Demokratisierung“, stellt Reichmann fest. Seit der Online-Stellung übersteigen die Zugriffe die Verkaufszahlen der Printversion mit rund 500 Exemplaren deutlich: So besuchten zum Beispiel im Januar 2021 knapp 30000 User aus Deutschland und aller Welt das Portal.

Einzigartige Informationsstruktur

Zusätzlich zu bestehenden Suchfunktionen bietet das Online-Wörterbuch Visualisierungen von Textsorteninformationen und Bedeutungsräumen. Über ein Auswahlmenü ist es möglich, sich jeden Wörterbuchartikel und seine Einzelbedeutungen, die Textsorten, Klassifikationen, Sinnwelten und Kommunikationsintentionen der zugrunde liegenden Belegstellen anzeigen zu lassen. Zudem ist sichtbar, wo und wie häufig das Wort in welcher Bedeutung im frühneuhochdeutschen Sprachraum vorkam. „Das ist weltweit einzigartig und wird auch genutzt“, betont Lobenstein-Reichmann und ergänzt: „Die Menschen möchten wissen, woher ein Wort stammt und welche Bedeutungen es hat. Das ist auch ein Stück Identitätsarbeit. Unsere Zugriffszahlen sprechen Bände“.

Doch ganz gleich, ob Print oder online, für Oskar Reichmann und Anja Lobenstein-Reichmann steht eines fest: „Mit dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch haben wir ein Instrument geschaffen und zur Verfügung gestellt, mit dem man die geschichtliche Textwelt des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit für zukünftige Generationen in allen sozialen Dimensionen so aufbereitet, dass man die eigene soziale Wirklichkeit darin gespiegelt sehen kann“.

In aller Kürze: Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch

Seit 2013 ist das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch Teil des Akademienprogramms der Akademienunion und wird von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen betreut. Das alphabetisch geordnete Bedeutungswörterbuch beschreibt den Wortschatz des Hochdeutschen (des Oberdeutschen, Mitteldeutschen und Norddeutschen) von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts und ist als Print und online verfügbar.

Akademische Leitung: Prof. Dr. Oskar Reichmann

Arbeitsstellenleiterin: Prof. Dr. Anja Lobenstein-Reichmann

Betreuende Akademie: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen

Laufzeit: 2013 bis 2027

ein Zettelkasten

Die im Zettelkasten befindlichen Belege bilden die Grundlage für die Wörterbuchartikel.

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Verschiedene Bände eines Wörterbuchs

Die Printausgabe umfasst bereits 11 Bände.

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Ein Mann sitzt und eine Frau steht neben einem Bücherregal

Prof. Oskar Reichmann und Prof. Anja Lobenstein-Reichmann.

Adrienne Lochte

Zwei Landkarten

Die Belege von Leben als körperlicher Existenzform (leben 1, links) sind deutlich anders verteilt als solche von Leben als seelischer Existenzform (leben 2, rechts).

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Verschiedene Kreisdiagramme

Während das körperliche Leben (leben 1, oben) in literarisch-dichtenden oder juristischen Texten zu finden ist, wird vom seelischen Leben (leben 2, unten) hauptsächlich in kirchlich-religiösen Zusammenhängen geschrieben.

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Grafik mit Punkten und verbundenen Linien

Das Netzwerk zu tod im FWB.

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eine Buchseite der Cirurgia

Krankheiten geraten in den Quellen des FWB, hier die „Cirurgia“ des Hieronymus Brunschwig, oftmals in den Blick.

Digitalisat der Wellcome Library        (https://archive.org/details/b24865382/page/n347/mode/2up)

Holzschnitt mit einer Abbildung des Todes und mehreren Personen

Mit der Personalität des Todes setzt sich etwa der Ackermann aus Böhmen auseinander.

Digitalisat der UB Düsseldorf(http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/pageview/2592426)