SAPERE-Projekt rückt die Geisteswelt der späteren Antike in die Gegenwart

Menschenwürde, Freiheit, Liebe oder Tod – wie haben Schriften aus der späteren Antike die geistige Grundlage für unser heutiges Denken gelegt? Das erforscht seit 2009 das SAPERE-Projekt der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Im Fokus stehen griechische und lateinische Texte der römischen Kaiserzeit, die auf die Religions-, Kultur- und Philosophiegeschichte ausstrahlen.

Votivrelief mit Betenden vor Artemis, Brauron, Archäologisches Museum inv. 1153. Das Beten ist Thema in SAPERE Band 31.

Votivrelief mit Betenden vor Artemis, Brauron, Archäologisches Museum inv. 1153. Das Beten ist Thema in SAPERE Band 31.

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„Seit dem 19. Jahrhundert blickte die Forschung auf bekannte Autoren der klassischen Epochen, etwa auf Platon, Aristoteles oder Vergil. Philosophische und religiöse Texte der späteren Antike, also aus der Zeit vom 1. bis 4. Jh. n. Chr., fristeten bisher ein Schattendasein“, sagt Dr. Simone Seibert, Koordinatorin des SAPERE-Projekts, und betont: „Zu Unrecht, denn gerade aus dieser Zeit stammen Werke, die philosophische, ethische und religiöse Fragen abbilden und bis heute unsere Geisteswelt beeinflussen.“

Dr. Simone Seibert, Koordinatorin SAPERE-Projekt

Dr. Simone Seibert ist seit Mai 2014 Koordinatorin im Projekt SAPERE (Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam REligionemque pertinentia) der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

privat

Wie setzt sich die Welt zusammen? Was bedeutet wahre Freiheit? Wer ist Gott? Was macht eine gute Lebensführung, was ein gutes Zusammenleben aus? Mit dem SAPERE-Projekt (Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam REligionemque pertinentia) erschließen die Forschenden die Schriften von Denkern wie Dion von Prusa, Philon von Alexandria, Maximos von Tyros oder Plutarch – und machen sie für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich.  

Geistiges Erbe der Antike

Dass gerade die Spätantike ein so ergiebiges Forschungsfeld ist, hat gleich mehrere Gründe: Das Römische Reich hatte zu dieser Zeit die größte Ausdehnung, verfügte über ein gutes Straßennetz, und die Menschen waren mobil. „Das geistige Erbe der klassischen Epochen war damals schon zum allgemeinen Bildungsgut geworden. Viele der Autoren, die wir betrachten, waren als Wanderphilosophen unterwegs, reisten von Stadt zu Stadt und verbreiteten ihr Wissen, indem sie Reden vor Publikum hielten oder Philosophenschulen gründeten. Diese gab es nicht nur in Athen oder Rom, sondern auch in Alexandria oder Kleinasien“, erläutert Seibert. „In diesen Zentren kamen die Ideen und Vorstellungen der damaligen Welt miteinander ins Gespräch“, so Seibert, „Und aus diesem Dialog hat sich das herausgebildet, was dann später zur geistigen Grundlage von Europa geworden ist.“

Eine wichtige Erkenntnis des SAPERE-Projekts ist, dass sich Philosophie und Religion nicht trennen lassen: Verschiedene Denkströme haben sich gegenseitig beeinflusst und weiterentwickelt, im Austausch mit dem Christen- und Judentum. „So hat zum Beispiel der jüdische Philosoph und Theologe Philon von Alexandria die antike griechische Philosophie benutzt, um die jüdische Lehre zu erklären. Interessanterweise wurde seine Methode der Bibelexegese von Kirchenvätern aufgegriffen und hat bis weit ins Mittelalter hinein und bis in die Neuzeit weitergewirkt“, führt Seibert aus.

Landkarte der Geisteswelt

Unter dem Motto „Eine Landkarte der Geisteswelt der römischen Kaiserzeit/ Mapping the intellectual and spiritual landscape of the Roman Empire: SAPERE 2009-2022 and beyond…“ hat im Juni 2022 das SAPERE-Projekt in Göttingen eine Fachtagung ausgerichtet. Dort wurden nicht nur das SAPERE-Projekt und seine bisherigen Ergebnisse diskutiert, sondern zugleich die Denkströme der späteren Antike anhand von philosophischen und religiösen Texten nachgezeichnet. Im Fokus standen Themen wie Mensch, Seele, Kosmos und Götter.

Die Projektmitarbeitenden Dr. Simone Seibert (rechts) und Dr. Andrea Villani (2. von rechts) moderieren auf der SAPERE-Tagung 17.06.2022 mit den Referierenden Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig (links) und Prof. Dr. Dr. Lautaro Roig Lanzillotta (2. von links)

Reihenherausgeber, Projektmitarbeitende und Beiräte bei der SAPERE-Jahrestagung 2021

Projekts SAPERE

Mit dem Beginn der Förderung im Jahr 2009 hat sich das Göttinger Projekt 24 griechische und lateinische Werke der späteren Antike vorgenommen und in sechs Tranchen aufgeteilt: In jeder Tranche gibt es zwei pagane Texte, also Texte rund um die römische und griechische Götterwelt, einen christlichen und einen jüdischen Text. „Mit Blick auf das große Ganze hätte es keinen Sinn gemacht, dass einzelne Disziplinen die Texte getrennt betrachten, also die klassischen Philologen nur die paganen Texte, die Theologen nur die christlichen Quellen und die Judaisten nur die jüdischen Schriften. Deshalb ist unser Akademieprojekt so angelegt, dass wir aus jedem dieser Bereiche Forschende zusammenbringen“, erklärt Seibert. Gemeinsames Ziel des multidisziplinären Teams ist, die Texte wissenschaftlich zu untersuchen und genau die antiken Autoren als Gesprächspartner verständlich zu machen, die auch zu gegenwärtigen Fragestellungen interessante Antworten geben können.

So zeigt ein Blick in den Band zu Plutarchs Politischen Ratschlägen etwa, wie man in Krisen und Stürmen des politischen Lebens ehrenvoll bestehen kann: mit einer festen Orientierung am Gemeinwohl der Polis sowie an der Wahrung von Recht und Gesetz. Zudem findet man dort treffende Beobachtungen und praktische Ratschläge für politische Auftritte. Ein anderer Band widmet sich dem Arzt Galen, der sich für eine philosophische Grundbildung von Ärzten ausspricht und die ethischen Fragen im Umgang mit Patienten in den Blick nimmt – nur zwei Beispiele von vielen, die zeigen, wie aktuell ein Blick in die Vergangenheit sein kann.

Allumfassend: SAPERE-Bände

Reihe der SAPERE-Bände im Regal

Reihe der SAPERE-Bände im Regal

Maria Gkamou

Im Zentrum jedes Bandes steht eine bestimmte Schrift. Nach einer Einleitung zu Autor und wichtigen Aspekten des Werkes wird der jeweilige Originaltext aus dem Altgriechischen, Lateinischen oder auch Hebräischen, Altsyrischen und Arabischen ins Deutsche oder Englische übersetzt. Der Originaltext ist mit einer gut lesbaren und zugleich möglichst genauen Übersetzung sowie mit Anmerkungen versehen. Anders als bei herkömmlichen zweisprachigen Textausgaben, arbeiten an jedem Band Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen, etwa den älteren und neueren Philologien, Geschichte, Archäologie, Theologie und Philosophie. „In Form von Essays werden die Werke aus unterschiedlichen Perspektiven umfassend beleuchtet und erklärt“, hebt Seibert hervor.

40 Bände – einige bereits vor der Akademieförderung, einige zusätzlich zur Akademieauswahl – sind in der Reihe SAPERE bereits erschienen. Sie richten sich sowohl an die Wissenschaft als auch an die interessierte Leserschaft. Die Bände werden zwei Jahre nach ihrem Erscheinen in die digitale Bibliothek der Göttinger Akademie „res doctae“ eingestellt und stehen als PDF zum kostenfreien Download bereit. Weitere Bände sind bis zum Projektende 2022 geplant.

„Sehr gerne möchten wir unsere Arbeit über das Projektende hinaus fortsetzen. Über die Erschließung der philosophischen und religiösen Texte haben wir nun tiefe Einblicke in das Denken der damaligen Zeit gewonnen – wobei die Überlieferung vornehmlich die intellektuelle Elite im Blick hat. Besonders interessant und erforschenswert wären die Inschriften aus dieser Zeit: Sie geben Auskunft über die Sichtweisen, die im Volk verbreitet waren – damit könnten wir die Karte der Geisteswelt der Spätantike noch detaillierter zeichnen.“

Das Projekt SAPERE (Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam Religionemque pertinentia)

Innerhalb der Laufzeit von 2009 bis 2022 wurden vom Akademieprojekt SAPERE der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen wurden insgesamt 24 Texte der späteren Antike ausgewählt, die sich mit ethischen und religiösen Fragen von bleibender Aktualität beschäftigen. Die Texte werden mit Übersetzung und Anmerkungen versehen sowie durch erklärende Essays aus verschiedenen Fachwissenschaften interdisziplinär erläutert.

Leitung:

Prof. Dr. Reinhard Feldmeier, Neues Testament, Göttingen

Prof. Dr. Rainer Hirsch-Luipold, Neues Testament, Bern

Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath (Sprecher), Klassische Philologie, Göttingen


Projekthomepage

Tabula Cebetis, anonym, 1573, Rijksmuseum Amsterdam SK-A-2372. Die allegorische Beschreibung eines Lebenweges durch verschiedene Mauerringe bis zum Gipfel der Glückseligkeit findet sich in SAPERE Band 8.

Tabula Cebetis, anonym, 1573, Rijksmuseum Amsterdam SK-A-2372. Die allegorische Beschreibung eines Lebenweges durch verschiedene Mauerringe bis zum Gipfel der Glückseligkeit findet sich in SAPERE Band 8.

Rijksmuseum Amsterdam

Der heilige Paulus beim Schreiben seiner Briefe, Valentin de Boulogne zugeschrieben, ca. 1620, Museum of Fine Arts, Houston, Texas. Der Briefwechsel von Seneca und Paulus findet sich in SAPERE Band 11.

Der heilige Paulus beim Schreiben seiner Briefe, Valentin de Boulogne zugeschrieben, ca. 1620, Museum of Fine Arts, Houston, Texas. Der Briefwechsel von Seneca und Paulus findet sich in SAPERE Band 11.

gemeinfrei

Titelbild SAPERE-Band 19 Dion von Prusa, Euböische Rede

Titelbild SAPERE-Band 19 Dion von Prusa, Euböische Rede

Verlag Mohr Siebeck

Handschrift mit den Reden des Dion von Prusa aus Florenz 1328, Biblioteca Medicea Laurenziana, Conventi soppressi 114, fol. 141v

Handschrift mit den Reden des Dion von Prusa aus Florenz 1328, Biblioteca Medicea Laurenziana, Conventi soppressi 114, fol. 141v

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Philon von Alexandria, Phantasieporträt von André Thevet, 1584

Philon von Alexandria, Phantasieporträt von André Thevet, 1584

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Plutarch, Phantasieporträt 17. Jh.

Plutarch, Phantasieporträt 17. Jh.

gemeinfrei

Hermes Trismegistos überreicht seine "Urweisheit" einem Vertreter des Orients und einem Vertreter des Okzidents, Fußbodenmosaik im Dom von Siena ca. 1480. SAPERE-Band 38 behandelt mit dem "Asclepius" einen Text des fiktiven Autors Hermes Trismegistos.

Hermes Trismegistos überreicht seine "Urweisheit" einem Vertreter des Orients und einem Vertreter des Okzidents, Fußbodenmosaik im Dom von Siena ca. 1480. SAPERE-Band 38 behandelt mit dem "Asclepius" einen Text des fiktiven Autors Hermes Trismegistos.

gemeinfrei

BU: Marsilius Ficinus' Einleitung zur Schrift De mysteriis von Jamblich, 1491, Biblioteca Medicea Laurenziana, Strozzi 97, fol. 1r. Jamblichs Biographie von Pythagoras war Gegenstand von SAPERE Band 4.

BU: Marsilius Ficinus' Einleitung zur Schrift De mysteriis von Jamblich, 1491, Biblioteca Medicea Laurenziana, Strozzi 97, fol. 1r. Jamblichs Biographie von Pythagoras war Gegenstand von SAPERE Band 4.

gemeinfrei

Nymphengrotte von Dr. Simone Seibert, 2022. In Porphyrios' allegorischer Erklärung einer Passage aus der Odyssee hat die Nymphengrotte zwei Ausgänge: einer führt die Seele hinab in das Leben, der andere hinauf in die Ewigkeit. Der Olivenbaum ist Symbol der göttlichen Vernunft. SAPERE Band 32.

Nymphengrotte von Dr. Simone Seibert, 2022. In Porphyrios' allegorischer Erklärung einer Passage aus der Odyssee hat die Nymphengrotte zwei Ausgänge: einer führt die Seele hinab in das Leben, der andere hinauf in die Ewigkeit. Der Olivenbaum ist Symbol der göttlichen Vernunft. SAPERE Band 32.

Dr. Simone Seibert

„Geistige Landschaft“ Bild von Dr. Simone Seibert zur SAPERE-Tagung 2022

„Geistige Landschaft“ Bild von Dr. Simone Seibert zur SAPERE-Tagung 2022

Dr. Simone Seibert

Die Projektmitarbeitenden Dr. Simone Seibert (rechts) und Dr. Andrea Villani (2. von rechts) moderieren auf der SAPERE-Tagung 17.06.2022 mit den Referierenden Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig (links) und Prof. Dr. Dr. Lautaro Roig Lanzillotta (2. von links)

Die Projektmitarbeitenden Dr. Simone Seibert (rechts) und Dr. Andrea Villani (2. von rechts) moderieren auf der SAPERE-Tagung 17.06.2022 mit den Referierenden Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig (links) und Prof. Dr. Dr. Lautaro Roig Lanzillotta (2. von links)

Maria Gkamou

Logo des Projekts SAPERE

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Marius Pfeifer