INSIGHT: „Im Netz des Sichtbaren“: Interview mit Projektleiter Prof. Andreas Dörpinghaus

Vier Würzburger Universitätssammlungen laden die Öffentlichkeit dazu ein, die Potenziale der Sammlungen zu entdecken und in Zukunft stärker zu nutzen. Über das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt „INSIGHT“ an der Universität Würzburg und die – derzeit leider nur virtuelle – Ausstellung sprachen wir mit Projektleiter Prof. Andreas Dörpinghaus.

Einblick in die Ausstellung "Im Netz des Sichtbaren"

Ausstellung "Im Netz des Sichtbaren"

Janina Kürschner

Die Dinge sind oft ganz anders als man denkt. Man glaubt, seinen Augen nicht zu trauen oder muss und will ganz genau hinschauen, um zu sehen. Erstmals geben vier Sammlungen der Julius-Maximilians-Universität Würzburg mit einer Ausstellung der Öffentlichkeit einen transdisziplinären Einblick in das dreijährige Forschungsprojekt „INSIGHT. Signaturen des Blicks – Facetten des Sehens“. Dieses Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

Das Adolf-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie, die Forschungsstelle Historische Bildmedien, die Medizinhistorischen Sammlungen und das Martin von Wagner Museum präsentieren Objekte, die im Rahmen dieses Projekts erschlossen und untersucht wurden. Als gemeinsame Ausstellung ist „Im Netz des Sichtbaren“ vom 29. Februar bis zum 31. Mai 2020 ein Angebot für die Öffentlichkeit, die Potentiale der Sammlungen zu entdecken und in Zukunft stärker zu nutzen.

INSIGHT führt die bisher unverbundenen kunst- und humanwissenschaftlichen Sammlungen der Julius-Maximilians-Universität Würzburg unter einer gemeinsamen Forschungsfrage zusammen. INSIGHT untersucht, welche Bedeutungen der Blick und das Sehen in Praxisfeldern und Forschungskontexten der Sammlungen haben.

Die Ausstellung beschäftigt sich mit verschiedenen Fragen: Wie wird etwas sichtbar gemacht und warum? Was bleibt uns verborgen? Welcher Blick wurde uns anerzogen? Wie hängen Sehen und Urteilskraft zusammen? Der Hauptteil der Ausstellung gliedert sich inhaltlich in vier aufeinander Bezug nehmende, kapitelartige Ausstellungseinheiten in Form von Themeninseln:

  • „Wahrnehmen und urteilen“
  • „Sehen lernen und lehren”
  • „Zeigen“
  • „Andere (an)sehen“

Im Interview mit dem Projektleiter Professor Andreas Dörpinghaus:

1. Sie haben in Ihrem Projekt erforscht, wie der Akt des Sehens gesellschaftlich und somit kulturell beeinflusst wird. Können Sie diesen Zusammenhang an einem Beispiel erläutern und zeigen, was dies wiederum mit Sammlungsobjekten zu tun hat?

Das Sehen, die Wahrnehmung des Visuellen, ist eng verknüpft mit Auffassungen einer Gesellschaft und Kultur. Sehen ist also nicht nur eine passive Aufnahme der Außenwelt, sondern immer auch eine Tätigkeit, die durch Erziehung geprägt, durch Verfahren, Regeln und Körperbeziehungen modelliert sowie durch Medien und Machtdispositive normiert wird. Menschen sehen also nicht Gleiches und auch nicht unmittelbar ohne intellektuelle Beteiligung. Den Signaturen, der Darstellung und der Reflexion des eigenen und des fremden Blicks und die mit ihm verbundenen Facetten des Sehens kommen von der Antike bis in die Gegenwart eine große Bedeutung zu. Blick und Sehen sind ein zentraler Zugang des Menschen zur Welt. Sie erfassen menschliche Selbst-, Welt- und Sozialverhältnisse in konstitutiver Weise.

Ausstellung "Versuche zur Ästhetik"

Themenfeld "Versuche zur Ästhetik"

Janina Kürschner

Das Forschungsprojekt widmete sich zunächst drei großen Themenfeldern, die für das Sehen und den Blick von größter Bedeutung sind und sich in der Ausstellung wiederfinden. Dies sind zum einen die Frage nach der Ästhetik des Sehens, die nach einer Ethik des Blicks sowie das Problem einer Erziehung des Blicks und der Frage nach dem Sehenlernen.

Die Ästhetik des Sehens war vor allem Untersuchungsgegenstand des Martin von Wagner Museums und des Adolf Würth Zentrums der Geschichte der Psychologie. So stand die interessante Frage im Raum, wie eigentlich ein Künstler des 19. Jahrhunderts die Antike sieht, und mit welchem Blick beeinflusst ein solcher Künstler zugleich auch die Wissenschaft der Archäologie, die sich in dieser Zeit herausbildet. Diese Auffassung des Sehens aus der Sicht künstlerischen Schaffens und des ästhetischen Empfindens fand im späten 19. Jahrhundert ein Korrelat in der experimentellen Ästhetik, der sich das Adolf-Würth-Zentrum widmete. Insbesondere wurde mit Methoden der experimentellen Ästhetik untersucht, welche Faktoren zur Faszination am Betrachten der stereoskopischen Raumbilder beitragen. Es zeigte sich, dass neben dem dargebotenen Motiv auch Faktoren der Aufnahme eine große Rolle in der ästhetischen Beurteilung spielen. Diese Befunde verweisen auch auf interessante Fragen nach der Konzeption von VR-Brillen, wie sie derzeit zum Einsatz kommen und auch in der Ausstellung zu finden sind.

Das Teilprojekt "Erziehung des Blicks" wurde von der Forschungsstelle Historische Bildmedien geleitet. Erst vor dem Hintergrund der Möglichkeit, das Sehen zu beeinflussen, kann eine Erziehung des Blicks entstehen, mit der nicht nur Diskurse des Sehenlernens verbunden sind, sondern eben auch das Sehen als ein Machtgeschehen und Dispositiv. Das Projekt legte die historisch-systematischen Grundlagen einer zunächst quantifizierenden Erziehung des Blicks frei. Der Fokus lag dabei auf Schopenhauer und Helmholtz. Ein zweiter Teil fragte nach der qualitativen Orientierung der Erziehung des Blicks und konzentrierte sich auf das ästhetische Sehen und den kunsterzieherischen Diskurs Anfang des 20. Jahrhunderts. Beiden Perspektiven ist gemeinsam, dass das Sehen zu einem eigenen Feld wird, das gesteuert, gelenkt und gestaltet werden kann. Die Ethik des Blicks wurde vor allem auf dem Feld der Medizin von den Medizinhistorischen Sammlungen ausgearbeitet. Objekte medizinischer Sichtbarkeiten abstrahieren, fragmentieren und objektivieren den menschlichen Körper und damit auch den individuellen Patienten, auf den der ärztliche oder medizinische Blick fällt. Die daraus resultierende ethische Problematik – zwischen Erkenntnisinteresse und Achtung der Menschenwürde – lässt sich sowohl auf die historische Situation hin untersuchen als auch auf die heutige Gegenwart beziehen. Im Zuge der historischen Entstehung des wissenschaftlichen Konzepts der Objektivität gewann der Sehsinn in der Medizin, insbesondere der geburtshilflichen Untersuchung an Bedeutung.

2. Wie wurde diese komplexe Thematik in eine Ausstellung überführt?

Das Team der Kuratorinnen und Kuratoren, bestehend aus den wissenschaftlichen Mitarbeitenden der vier beteiligten Sammlungen sowie einer Museologin, hat es sich zum Ziel genommen, die Thematik durch eine ästhetisch gestaltete und interaktive Ausstellung einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Durch eine enge Verflechtung sollte Interdisziplinarität und gemeinsame Forschungsreflexion sichtbar gemacht werden. Der gesamte Arbeitsprozess lässt sich daher als ein ‚forschendes Ausstellen‘ beschreiben, wobei bestimmte Fragen erst mit dem Ausstellungsbesuch selbst aufgeworfen werden sollten. Die Grundthese der Ausstellung ist, dass sich Menschen stets in einem Netz aus sichtbaren und unsichtbaren Dingen bewegen. Objekte und Bilder wurden und werden für bestimmte Betrachtende produziert. Bei diesen Prozessen der Sichtbarmachung werden jedoch auch Dinge verworfen und unsichtbar gelassen.

Eine große Herausforderung war, die Gemeinsamkeiten der in Gattung, Material und Zeitstellung sehr heterogenen Objekte herauszuarbeiten und ihre interdisziplinären Potentiale zu entdecken. Zumal auch offenbar wurde, wie unterschiedlich die beteiligten Disziplinen methodisch und museologisch arbeiten. Die erste Themeninsel beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen Dinge wahrnehmen und beurteilen, und weiter gefasst mit der Frage nach dem Schönen und idealen Körpern. Dem philosophischen Diskurs der Ästhetik folgend, beginnen Kunstschaffende und Forschende im 18. Jahrhundert, antike Schönheitsideale zu analysieren. Messungen und Experimente sollen das Schöne objektiv beurteilbar machen. Die Besuchenden können zudem ihr ästhetisches Urteil mit einem interaktiven psychologischen Experiment auf einem Touchscreen selbst auf die Probe stellen.

Ausstellungseinblicke

Ausstellungskapitel "Sehen Lernen und Lehren"

Janina Kürschner

In „Sehen lernen und lehren“ geht es um das Spannungsfeld zwischen individuellen und kollektiven Seherfahrungen. Unser Blick ist immer anerzogen und wird soziokulturell geprägt. Im Zentrum steht daher die Erziehung des Blicks mithilfe von Schulwandbildern, die nicht nur Stoff, sondern auch ein ästhetisches Empfinden vermitteln sollten. Dass sich in den Wissenschaften besonders ab dem 19. Jh.  spezifische Praktiken des Sehens herausbildeten, wird besonders in der Medizin deutlich. Röntgenbilder etwa sind nicht ohne weiteres für alle lesbar, sondern erfordern einen professionalisierten Blick. Eine Radiografie aus dem Nachlass Wilhelm Conrad Röntgens trägt an dieser Stelle auch dem diesjährigen Röntgen-Jubiläum Rechnung, das für Würzburg eine große Rolle spielt.

Das Kapitel „Zeigen“ beschäftigt sich mit dem (Re)Präsentieren und der Vermittlung von Wissen. Denn alle Dinge, die gesehen werden wollen oder sollen, müssen sich zeigen. Wie sie sich zeigen, wie Bilder und Informationen erzeugt und aufgenommen werden, hängt vom Medium der Darstellung ab.

Strategien des Zeigens im Bild ist ein weiteres Thema: Auf einem Schulwandbild zum Teehandel etwa wird die Aufmerksamkeit auf bestimmte (Werbe)Botschaften gelenkt, also bereits das Sehen der Kinder manipuliert.

An einem Tisch mit verschiedenen Exponaten und interaktiven Stationen werden Aspekte der Themenkapitel abermals erlebbar: Die Besuchenden können sich beim Tragen von Umkehrbrillen, die in der Mitte des 20. Jh. für psychologische Experimente genutzt wurden, davon überzeugen, wie es sich anfühlt, wenn die Umgebung ‚auf dem Kopf‘ steht. Das im 19. Jh. enorm beliebte Stereoskop, das dem oder der Einzelnen erlaubte, Fotos mit dreidimensionalen Qualitäten zu sehen, findet seine Entsprechung in einer modernen VR-Brille, die ebenfalls ausprobiert werden kann.

Das letzte Kapitel behandelt, wie wir „Andere (an)sehen“. Objekte aus Sammlungen, die als ‚echte Zeugen’ der Geschichte gelten, prägen die Ansichten nachfolgender Generationen. Frühere Sichtweisen, Körper- und Rollenbilder übertragen sich durch die Objekte und damit auch bestimmte Blicke auf Menschen. Schulwandbilder, stereoskopische Bildkarten oder ein Skizzenbuch Martin von Wagners zeigen, wie sehr die eigene Weltsicht auf Andere projiziert wird, was idealisiert oder ausgeblendet wird. Die größte Vitrine in der Ausstellung bleibt leer, nur ein Etikett und ein Buch verweisen auf ein nicht gezeigtes Objekt aus den medizinhistorischen Sammlungen.

optisches Gerät

Janina Kürschner

Da das Projekt „INSIGHT“ neben inhaltlichen Forschungsfragen auch Infrastruktur und Digitalisierung der Universitätssammlungen förderte, werden auch diese Themen in der Ausstellung aufgegriffen. Zum einen durch verschiedene Medien und Technologien des Sehens: Welche Wahrnehmung haben wir beim Blick durch ein Stereoskop oder eine VR-Brille, auf einen Röntgenbildbetrachter oder einen Dia-Projektor? Zum anderen durch interaktive Angebote für die Besuchenden, die z. B. an einem Tablet künstlerische Werkprozesse anhand ausgewählter Zeichnungen Martin von Wagners nachverfolgen können. Im angrenzenden Kinoraum zeigen Präsentationen der vier Sammlungen die große Fülle und Vielfalt an Objekten, die in den Depots lagern. Die Besucher und Besucherinnen werden darüber hinaus eingeladen, Sammlungsobjekte an einem Depotregal selbst zu ‚erforschen‘ und so die alltägliche Arbeit in den Archiven und Sammlungen zu erfahren.

3. Universitäre Sammlungen sind nur punktuell in Ausstellungen, und meist in den Hochschulalltag eingebettet. Wie werden sich die Sammlungen Ihrer Hochschule und ihre Nutzung durch das Forschungsprojekt und die Ausstellung verändern?

INSIGHT hat die Forschungsfrage zum Anlass genommen, insgesamt den vielen bedeutenden Universitätssammlungen der Universität Würzburg eine strukturelle Sichtbarkeit zu verleihen. So entstand im Laufe des Projekts das Kompetenzzentrum Universitätssammlungen Würzburg, ein Blickportal, in dem sich die Sammlungen präsentieren können sowie ein Sammlungswiki, Collect&Care, das ein Fundament für weitere Sammlungsarbeiten ist.

Neben dem inhaltlichen Narrativ wird in der Ausstellung auch die Diversität und die vielfältigen Potentiale der Universitätssammlungen in Würzburg sichtbar gemacht. Es wäre wünschenswert, wenn sich im Anschluss an „INSIGHT“ auch andere Sammlungen der Universität Würzburg gemeinsamen Themen widmen und so sichtbarer werden. Ebenso hat die Lehre mit und an den Objekten, die im Rahmen von „INSIGHT“ in allen vier Sammlungen durchgeführt wurde, gezeigt, wie anregend die Arbeit mit Originalen, die eine spezifische Materialität besitzen, für Studierende ist. Eine solche Sammlungsarbeit, die meist ‚hinter den Kulissen‘ abläuft, wird in auch in der Ausstellung erlebbar: Ein offenes Depotregal lädt zum Erforschen ein und stellt zugleich die Frage nach der Zukunft der Universitätssammlungen. 

Hinweis: Die Ausstellung ist wieder geöffnet. Informieren Sie sich über besondere Bestimmungen zum Besuch auf der Ausstellungs-Website sowie in den sozialen Medien. [Stand 13.05.2020]

Das BMBF-Projekt INSIGHT

Im Rahmen des BMBF-geförderten Projekts „INSIGHT. Signaturen des Blicks – Facetten des Sehens“ (2017–2020, Förderrichtlinie "Vernetzen - Erschließen - Forschen. Allianz für universitäre Sammlungen") haben vier Würzburger Sammlungen ausgewählte Bestände erschlossen, analysiert, digitalisiert und zum Teil restauriert. Viele Objekte und Sammlungsschwerpunkte können nun, nachdem sie erforscht sind, in ihrer Einzigartigkeit, Wirkung und Aktualität gewürdigt werden und in der Ausstellung eine neue Sichtbarkeit erfahren. Gezeigt werden ausschließlich Objekte aus den an „INSIGHT“ beteiligten Würzburger Sammlungen: dem Adolf-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie, der Forschungsstelle Historische Bildmedien, den Sammlungen des Instituts für Geschichte der Medizin, der Moulagensammlung der Universitäts-Hautklinik und dem Martin von Wagner Museum.