Himmel auf Erden: Mittelalterliche Glasmalerei

Mit ihrem unvergleichlichen Licht-, Farben- und Formenspiel versetzen sie den Betrachter in eine andere Welt, erzählen Geschichten aus vergangenen Zeiten und holen den Himmel auf die Erde – Glasmalereien aus dem Mittelalter. Bemerkenswert viele sind heute noch erhalten. Und das bleiben sie auch – über Zeit und Raum hinaus.

Nicht zuletzt ist dies der Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Corpus Vitrearum zu verdanken: Bereits seit 1952 erforschen internationale Forscherteams die Überlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Glasmalereien. Dafür haben sich zwölf europäische Länder – darunter Deutschland – sowie die USA und Kanada zu einem der größten geisteswissenschaftlichen Forschungsverbünde weltweit zusammengeschlossen.

Die deutschen Bestände liegen in den Händen des Langzeitvorhabens „Corpus Vitrearum Medii Aevi“. Ziel des CVMA ist es, sämtliche Glasmalereien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit fotografisch zu dokumentieren und sie in gedruckten Bänden, die zahlreiche hochqualitative Abbildungen enthalten, und – neuerdings auch online – für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Mann am Computer

Auf der Basis dieser Fotos entstehen Erhaltungsschemata, in die spätere Ergänzungen bzw. Restaurierungen eingezeichnet sind, um die mittelalterlichen Anteile kenntlich zu machen. Gleichzeitig werden noch Stil und Ikonographie der einzelnen Szenen oder Figuren untersucht und die Entstehung und Funktion der einzelnen Fenster innerhalb des Kirchenraums rekonstruiert. Die Ergebnisse münden in die Corpus-Bände, die die beiden Arbeitsstellen nach internationalen Richtlinien herausgeben.

CVMA Freiburg/Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Foto: Andrea Gössel

Gemeinsame Verantwortung für das Kulturerbe

„Nach den Zerstörungen der Weltkriege war es etwas ganz Besonderes, als Weltgemeinschaft Verantwortung für die Bewahrung unseres Kulturguts zu übernehmen – und das ist es bis heute“, betont Prof. Dr. Maria Deiters, Leiterin der Arbeitsstelle in Potsdam, neben Freiburg eine der beiden Arbeitsstellen des Projekts. „Die mittelalterliche Glasmalerei ist eine Kunstgattung, die unseren gesamten europäischen Kulturraum prägt.“

Faszination des göttlichen Lichts

Seit dem 13. Jahrhundert tauchen die kunstvollen Farbverglasungen Gotteshäuser in eine einzigartige, geradezu transzendente Atmosphäre. „Das Arbeiten mit Licht und Lichtstrahlen hat Sakralbauten vieler Kulturen geprägt, so auch im Christentum“, sagt Deiters und ergänzt: „Das Licht, das durch Glas hindurch scheint, verändert sich, ist sichtbar, erlebbar, aber nicht fassbar – eine Metapher für Gott und den Glauben. Den mittelalterlichen Kirchenraum kann man sich auch als Abbild des Paradieses vorstellen“.

Im Lauf der Zeit mussten die Glasmalereien allerdings Veränderungen hinnehmen. Verwitterung, Kriege, aber auch kleinere Schäden: Kaum eine Farbverglasung aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit ist heute unversehrt an ihrem angestammten Platz. „Nicht selten wurden die Glasmalereien ohne Rücksicht auf ikonographische Zusammenhänge umgestellt, ergänzt oder auch verkauft. Und genau diese Veränderungen halten wir fest“, so Deiters.

Restaurierungen am Naumburger Dom

Um die fragilen, Jahrhunderte alten Kunstwerke zu schützen, sind umfangreiche Restaurierungen erforderlich. Ein Beispiel dafür ist der Naumburger Dom, der seit 2018 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt.

Das CVMA-Team hat bei der Restaurierung der Glasmalereien des West- und Ostchors mitgewirkt. „Durch die genaue Autopsie der Glasmalereien können wir erkennen, was von den Glasmalereien aus dem Mittelalter, was von den Ergänzungen aus dem 19. Jahrhundert noch erhalten ist“, erläutert Deiters. Und dafür muss man hochsteigen, die Gläser ausbauen, fotografieren und analysieren, Stück für Stück, ganz vorsichtig.

Überraschende Erkenntnisse

Vor der Restaurierung ging man davon aus, dass die Glasmalereien des Naumburger Doms aus dem 13. Jahrhundert stark verändert worden waren. „Mitnichten. Wir haben einen außergewöhnlich gut erhaltenen Bestand aus dem Mittelalter vorgefunden“, unterstreicht Deiters. „Die Malereien aus dem 13. Jahrhundert sind von hoher technologischer Qualität, die Farben von unglaublicher Leuchtkraft, gemalte Muster sind sogar von außen aufgebracht und wirken wie der schimmernde Samtstoff eines Ornats. Auch die Figuren sind mit Schatten und Linien versehen, so dass sie dreidimensional wirken.“

Entscheidend bei großen Restaurierungsarbeiten ist aber laut Deiters der Blick auf das Große und Ganze: „Wir suchen Antworten auf Fragen wie: Was haben wir an Glasmalereien vorgefunden, wie spielt das mit der Architektur, den Skulpturen, mit der Liturgie des Kirchenraumes zusammen? Wie fügt sich das in ein ästhetisches, geistiges und historisches Gesamtbild? Dank unserer kunsthistorischen Expertise und langjährigen Erfahrung konnten wir vieles zur Restaurierung des Gesamtkunstwerkes beitragen.“

Glasmalerei digital

Ergänzend zu den umfangreichen Publikationen ist ein gemeinsames digitales Bildarchiv der CVMA-Arbeitsstellen Freiburg und Potsdam im Aufbau. Dieses Archiv stellt Gesamt- und Detailaufnahmen von Glasmalereien online zur Verfügung, fein sortiert nach Orten und Jahrhunderten.

Wer es noch genauer wissen will, kann neuerdings mittelalterliche Glasmalerei ausgewählter Kirchen im Kontext betrachten: Hier fügen sich Kirchenraum und Fenster zu einem Gesamtbild, ja sogar zu einer Gesamterzählung zusammen.

Um dieses Wissen besser nutzen und teilen zu können, ist für Deiters die Verknüpfung der deutschen CVMA-Datenbank mit den europäischen Partnern eine Herzensangelegenheit: Hier startet derzeit ein Pilotprojekt mit der Schweiz. „Ein Samenkorn der virtuellen, internationalen Forschungszusammenarbeit, das hoffentlich bald aufgehen wird.“

Bilderstrecke:

CVMA-Team bei der Arbeit im Naumburger Dom

Forschungsarbeiten in schwindelerregender Höhe: Das CVMA-Team bei der Arbeit im Naumburger Dom.

CVMA Potsdam/Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Foto: Maria Deiters

Forschende untersuchen die Glasscheiben mit den Malereien

Jede einzelne Scheibe nehmen die Forschenden heraus, um sie zu untersuchen und zu fotografieren. Quellenforschung und Objektanalyse liefern den Kontext zur Geschichte des Baus und seiner Verglasung.

Atelier Parot, Aiserey, France

Mann am Computer

Auf der Basis dieser Fotos entstehen Erhaltungsschemata, in die spätere Ergänzungen bzw. Restaurierungen eingezeichnet sind, um die mittelalterlichen Anteile kenntlich zu machen. Gleichzeitig werden noch Stil und Ikonographie der einzelnen Szenen oder Figuren untersucht und die Entstehung und Funktion der einzelnen Fenster innerhalb des Kirchenraums rekonstruiert. Die Ergebnisse münden in die Corpus-Bände, die die beiden Arbeitsstellen nach internationalen Richtlinien herausgeben.

CVMA Freiburg/Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Foto: Andrea Gössel

Bild der Homepage des CVMA Deutschland

Auf der Homepage des CVMA Deutschland ist ein gemeinsames digitales Bildarchiv der beiden Arbeitsstellen Freiburg und Potsdam im Aufbau. Dieses Archiv stellt Gesamt- und Detailaufnahmen von Glasmalereien zur Verfügung (www.corpusvitrearum.de). Es rückt die in den Kirchenräumen hoch und weit entfernt angebrachten Glasbilder nah vor Augen.

CVMA/Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Esslingen St. Dionys; Chor

Geburt der Maria / Stadtkirche St. Dionysius, Esslingen (um 1300)

Andrea Gössel, CVMA Freiburg

Nürnberg St. Sebald; Chor

Wappen Eisvogel / Pfarrkirche St. Sebald, Nürnberg (um 1379)

Gerhard Gräf, CVMA Freiburg

Oppenheim Katharinenkirche

Vierpass mit Sonne in Weinranken / Katharinenkirche, Oppenheim (Um 1330/40)

Gerhard Gräf, CVMA Freiburg

Stadtkirche; Chor

Helena von Württemberg als Stifterin / Stadtpfarrkirche, Langenburg (1906)

Andrea Gössel, CVMA Freiburg

Ulm Münster, Bessererkapelle, Chor

Arche Noah / Münster Unserer Lieben Frau, Ulm (um 1430/31)

Rüdiger Becksmann, CVMA Freiburg

Veerssen, Marienkirche

Strahlenkranzmadonna in vegetabilem Rahmen (Detail: Maria mit Kind) / Pfarrkirche St. Marien, Veerßen (1. D. 16. Jh.)

Andrea Gössel, CVMA Freiburg