Erster SprecherInnenwechsel am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Am 01. Juni 2021 wird das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) ein Jahr alt. Damit geht die Sprecherfunktion regulär von dem Historiker Professor Dr. Matthias Middell an der Universität Leipzig an die Politikwissenschaftlerin Professorin Dr. Nicole Deitelhoff an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. über.

Professor Middell, Sie haben das FGZ in seiner Anfangsphase geleitet. Inwieweit ist es Ihnen gelungen, aus den elf deutschlandweit verteilten Universitäten und Forschungsinstituten mit knapp 200 Wissenschaftler:innen ein homogenes Ganzes zu machen, das gemeinsame Ziele verfolgt?

Professor Dr. Matthias Middell

Professor Dr. Matthias Middell

Sven Reichhold

Zunächst muss man hervorheben, dass die Rolle des Sprechers bzw. der Sprecherin eine beschränkte ist. Der Institutsrat trifft im FGZ die Entscheidungen auf Grundlage eines gemeinsamen Forschungsprogramms und die Gruppe der drei Sprecher:innen aus Bremen, Frankfurt und Leipzig setzt sie um. Das Institut zeichnet sich in erster Linie  durch seine Diversität aus – hierin liegt sein großer Vorteil: Es vereint Wissenschaftler:innen aus ganz unterschiedlichen Fächern, die an ihren Standorten mit unterschiedlichen Facetten des gesellschaftlichen Zusammenhalts konfrontiert sind. Daraus ein homogenes Ganzes zu machen, würde dem Institut seine Stärke nehmen. Es kann also nur darum gehen, diese Verschiedenheit der Blickwinkel zu einem produktiven Gemeinsamen zu verknüpfen.

Unsere Ziele teilen wir tatsächlich: Wir wollen besser verstehen, wie gesellschaftliche Kohäsion funktioniert, welche Funktion das intensive Sprechen über gesellschaftlichen Zusammenhalt hat und wie sich die aktuelle Lage in Deutschland in dieser Hinsicht im internationalen und historischen Vergleich darstellt. Das Jahr zwischen den Sommern 2020 und 2021 war in dieser Beziehung wirklich besonders und voller neuer Herausforderungen: Niemand von uns wusste vorab, wie sich Zusammenhalt unter den Bedingungen einer Pandemie und konkret in einem mehrfachen Wechsel von Lockdown und Öffnungsbemühungen entwickelt. Das Jahr war auch jenes, in dem langsam die Bundestagswahl in den Fokus rückte, und es war jenes, in dem es um die Ausgestaltung des europäischen Projektes nach dem Brexit ging. Es gibt eine tiefe Krise im Verhältnis zu Russland und nach den Wahlen in den USA einen Neuanfang in den transatlantischen Beziehungen samt rasch gewachsener Aufmerksamkeit für die Black Lives Matter Bewegung. Obwohl die Nachrichten jeden Tag von Corona-Meldungen dominiert waren, war das eben beileibe nicht der einzige Faktor, der auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt einwirkte. Und genau für diese Vielfalt der Faktoren brauchen wir eben auch die Diversität im Institut, um nicht überrascht zu werden von raschen Wechseln der Konstellationen, in denen um gesellschaftlichen Zusammenhalt gestritten und gerungen wird.

Wie fällt Ihr Rückblick insgesamt aus? Welche Meilensteine sind geschafft und wofür hätten Sie sich mehr Zeit gewünscht?

So banal es klingen mag, aber von einem Förderbescheid durch das Bundesministerium bis zu einem arbeitsfähigen Institut sind viele Schritte zu nehmen, die ganz prosaisch sind: Es müssen Räume besorgt, Mitarbeiter:innen eingestellt, Konten eingerichtet, Computer angeschlossen und vielleicht sogar Bleistifte gespitzt werden. Nun wäre das wahrscheinlich leichter von der Hand gegangen, wenn das Institut an einem Ort angesiedelt wäre, aber wie schon erläutert, gehört ja zu seinen Vorzügen die Verteilung über elf Standorte, deren Geschäftsstelle sich wiederum an drei verschiedenen Standorten befindet. Das ist ein neues Modell des BMBF und wir haben ein paar Wochen gebraucht um zu verstehen, wie ganz verschiedene Organisationskulturen zusammengefügt und durch möglichst flexible Regeln in ihrem Zusammenwirken arbeitsfähig gemacht werden. Für den Moment sind wir ganz froh, die Maschine mit elf Beinen zum Laufen gebracht zu haben.
In einem ersten Sammelband haben wir uns mit den grundlegenden konzeptionellen Überlegungen des FGZ und der Breite seiner empirischen Expertise vorgestellt, gewissermaßen unsere Visitenkarte hinterlegt. Eine erste Jahrestagung hat uns im November 2020 in Leipzig in der internationalen Kooperationslandschaft verortet, gegenwärtig nehmen wir die zweite Jahrestagung in Frankfurt im Juli in den Blick, die die Zusammenarbeit mit einschlägigen Einrichtungen in Deutschland hervorheben wird. Ein regelmäßiges Institutskolloquium ist etabliert und findet viel Anklang angesichts der Qualität der Beiträge. Dass uns dabei die Pandemie auch zu Hilfe gekommen ist, sei nicht verschwiegen, denn möglicherweise hätten wir uns ohne Reisebeschränkungen schwerer getan, Wissenschaftler:innen aus Bremen und Konstanz oder Berlin und Jena bei all den anderen Terminverpflichtungen so mühelos zusammenzubringen, wie das per Zoom nun funktioniert.
An vielen Standorten hat es Eröffnungsveranstaltungen gegeben, die den jeweiligen Schwerpunkt auch öffentlich sichtbar gemacht haben, andere Standorte werden folgen. Ein wissenschaftlicher Beirat mit hochkompetenten Kolleg:innen hat im April die Arbeit aufgenommen und bereitet sich aktuell auf die erste Qualitätsüberprüfung unserer Forschungsarbeit vor, die 2022 erfolgen soll. Wir sind sehr dankbar, dass wir auf diese Weise Begleiter:innen gewonnen haben, die uns kritisch einen Spiegel vorhalten und Rat geben.
In den letzten vier Monaten hat sich eine Taskforce des FGZ mit dem Thema Rassismus in Institutionen beschäftigt, die ein auf vier Jahre geplantes Projekt entworfen hat, das helfen soll, die Maßnahmen aus dem Kabinettsausschuss gegen Rassismus und Rechtsextremismus der Bundesregierung mit wissenschaftlichen Mitteln zu unterstützen.
In Summe: Uns steckt ein anstrengendes Jahr in den Knochen, aber wir können wohl damit zufrieden sein, im Zeitplan bei der Etablierung des FGZ als bundesweites Institut zu liegen.

Wie stark hat Ihre fachliche Ausrichtung als Historiker das FGZ in seiner Anfangsphase geprägt?

Das plötzliche und massive Auftauchen eines Begriffes, den es vorher so gar nicht gegeben hat, auch wenn natürlich andere Termini zur Adressierung verwandter Sachverhalte existierten, fällt vielleicht einem Historiker eher auf als den auf die Gegenwart konzentrierten Kolleg:innen. Warum wir auf einmal alle vom gesellschaftlichen Zusammenhalt reden, erscheint demzufolge manchem eine aufregende Frage und anderen kein großes Problem, schließlich wird immer irgendein Modebegriff populär und verdrängt andere. Aber schon weil der Begriff gar nicht so einfach übersetzt werden kann oder jedenfalls dann etwas leicht anderes meint, stellt sich eine Folgefrage: ob es nämlich länderspezifische Konjunkturen in der Aufmerksamkeit für gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt, die der Vergleich aufdecken kann. Und noch einmal anders gewendet: Zeigt das Reden, manchmal sogar Beschwören des gesellschaftlichen Zusammenhalts etwa an, das er gerade besonders gefährdet ist und hält diese Hypothese dem Vergleich mit früheren Epochen stand? Sie sehen, in vielerlei Hinsicht können Historiker:innen Spielverderber:innen sein, wenn allzu Selbstverständliches behauptet wird. Bleibt zu hoffen, dass die Kolleg:innen im FGZ dies eher als Ansporn zum Schärfen der Argumente und zur Verfeinerung der empirischen Beweiskraft nehmen und nicht als unproduktiven Catenaccio verstehen, der die Spielfreude erstickt.

Wie müssen wir uns die Übergabe des Staffelstabs vorstellen?

Wie es sich nach den Regeln gehört, werden wir versuchen, den Wechselraum bei der Stabübergabe nicht zu verlassen und ansonsten weiter als Team zusammenwirken, denn die Endzeit errechnet sich ja nicht aus der besten Laufzeit der Einzelnen, sondern durch Summieren aller Anstrengungen.

Professorin Deitelhoff, Sie starten als FGZ-Sprecherin nahtlos am 01. Juni 2021. Was gehen Sie als erstes an?

Professorin Dr. Nicole Deitelhoff

Professorin Dr. Nicole Deitelhoff

Uwe Dettmar

Es gibt nicht die eine große Aufgabe für das „Frankfurter Jahr“, sondern es geht darum, die vielen Anstöße, die wir im ersten Jahr vorgenommen haben, systematisch weiterzuentwickeln und mit Leben zu füllen. Dazu zählen die neuen Formate, vom Kolloquium über die Working Paper Series bis zum Blog. Dazu gehört aber auch die Zusammenarbeit der einzelnen Geschäftsstellenbereiche untereinander und mit den Teilinstituten. Das FGZ ist ein reichlich komplexes Gebilde: Es braucht viel Zeit und Aufmerksamkeit, um zu gedeihen.
Aber wenn Sie nach einer Aufgabe fragen, die sich vermutlich erst in diesem Jahr so richtig stellen wird, dann ist das sicher der Wissenstransfer: Wir haben einen Praxisrat ins Leben berufen, der seine Arbeit aufnehmen und unsere Forschung kritisch begleiten wird, uns unsere blinden Flecken ebenso aufzeigen wird wie er uns hoffentlich nötigt, unsere Fähigkeiten zu verbessern, unsere Forschung in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.

Ein Jahr ist nicht viel Zeit in einer solchen Aufgabe. Welche weiteren Akzente wollen Sie setzen?

Stimmt, aber es geht nicht darum, dem FGZ einen Frankfurter Stempel aufzudrücken, das wollen wir mit der Forschung die wir in Frankfurt machen, erreichen. Für die Geschäftsführung ist unser Ziel, das FGZ als Institut weiter zu stärken, seine Diversität zu fördern, aber sie auch immer wieder so zusammenzuführen, dass wir gemeinsame Fragestellungen beantworten und unsere geteilte Forschungsagenda vorantreiben können.

Inwieweit wird Ihre fachliche Ausrichtung als Politikwissenschaftlerin das FGZ prägen?

Ich bin nur eine Politologin unter vielen anderen im FGZ. Unsere Stärke ist es sicher, auf die politische Dimension von Zusammenhalt hinzuweisen. Deutlich zu machen, dass Zusammenhalt nicht nur gern politisch beschworen wird, sondern auch verhandelt wird. Wie politische Entscheidungen, wie Macht und Verfahren auf Zusammenhalt wirken, sind klassische Fragen aus Sicht der Politikwissenschaft. Ein vollständiges Bild erhalten Sie aber nur, wenn die Politologie mit den anderen Disziplinen zusammenarbeitet. Dafür steht das FGZ und dafür steht die Frankfurter Geschäftsführung.

Herzlichen Dank für das Gespräch!


Quelle: FGZ, Wiebke Wehling