DDR-Forschung: Internetseite „Haft in der DDR. Die Gefangenen der Stasi“ jetzt online (haft-ddr.de)

Interview mit Dr. Michael Schäbitz, Projektleiter „Daten politischer Verfolgung“ des BMBF-Verbundprojektes „Landschaften der Verfolgung

Kaum jemand weiß genau, wie viele Menschen tatsächlich zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen in Haft saßen. Groben Schätzungen zufolge waren es zwischen 180.000 und 350.000 Menschen. Seit 2019 arbeitet das Teilprojekt „Daten politischer Verfolgung“ des Forschungsverbundes „Landschaften der Verfolgung“ mit fünf Mitarbeitern daran, an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen eine Forschungsdatenbank zu Gefangenen der Staatssicherheit zu erstellen.

Kooperationspartner sind die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße, die Robert-Havemann-Gesellschaft, das Menschenrechtszentrum Cottbus und der Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ein sichtbares und nutzbares Forschungsergebnis ist die Internetseite „Haft in der DDR“. Seit Oktober 2022 ist sie online.

Herr Dr. Schäbitz, warum ist gerade in heutigen Zeiten wichtig zu wissen, wie viele Menschen aus welchen Gründen zu DDR-Zeiten politisch in Haft waren?

Dr. Michael Schäbitz, Modulverantwortlicher „Modul I

Dr. Michael Schäbitz, Modulverantwortlicher „Modul I: Daten politischer Verfolgung“ des BMBF-Verbundprojektes „Landschaften der Verfolgung

Gedenkstätte Hohenschönhausen

Wenn wir Besuchergruppen durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen führen, stellen diese automatisch Bezüge zu tagespolitischen Nachrichten her, in letzter Zeit beispielsweise zur Lage in Russland oder dem Iran. Von daher sind unsere übergeordneten Themen – Haft als politisches Herrschaftsinstrument und das Verhältnis von Diktatur und Recht – nach wie vor relevant und aktuell.

Der Schutz jedes einzelnen Menschen vor staatlicher Willkür ist eine zentrale Errungenschaft von demokratischen Gemeinwesen. Lange haben Menschen dafür gekämpft, viele riskieren noch heute Gesundheit und Leben dafür. Auf der anderen Seite kaschieren Diktaturen ihre Gewalt mit Hilfe pseudo-demokratischer Strukturen, so auch die DDR.

Inzwischen wird vielfach behauptet, Repression und gar Repression durch Haft hätten im DDR-Alltag kaum eine Rolle gespielt. Doch diente die politische Strafverfolgung unzweifelhaft der Disziplinierung auch derjenigen, die davon nicht direkt betroffen waren, ob sie das nun wahrhaben wollen oder nicht. Damit leistet die Auseinandersetzung mit politischen Häftlingen in der DDR auch einen Beitrag zum strukturellen Verständnis der Unterdrückungsmaschinerie der SED-Diktatur.

Konkret geht es uns bei unserer Arbeit gar nicht darum, eine absolute Zahl nennen zu können. Zum einen reichen die von uns bisher erhobenen Daten dafür gar nicht aus. Es fehlen die Stasi-Untersuchungshäftlinge der 1950er Jahre sowie die vermutlich noch viel größere Gruppe der politisch Verfolgten, bei der die Ermittlungen ausschließlich in den Händen der Volkspolizei lag. Zum anderen möchten wir die Gruppe der Betroffenen in den Fokus stellen. Eine große oder kleine Zahl ist nur eine Zeitungsmeldung, aber die Auseinandersetzung mit der politischen Repression mit Hilfe von Haft durch die SED und in ihrem Auftrag durch die Stasi soll durch unsere Arbeit einen neuen Impuls erhalten. Erstmals ist es möglich mit Hilfe einer validen und nachvollziehbaren Datengrundlage die Gruppe der durch politische Haft beim MfS Verfolgten in ihren Ausprägungen zu erforschen.

Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Projekt?

Politische Haft in der DDR wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Mit unserem Projekt erstellen wir eine verlässliche Datengrundlage für detaillierte Analysen: eine Forschungsdatenbank zu Gefangenen der Staatssicherheit aus Karteikartenbeständen des Stasi-Unterlagen-Archivs und des Bundesarchivs. Bis April 2023 wird die Datenbank Informationen zur Person, zum Verfahren und zur Strafhaft von rund 51.000 Gefangenen für die Jahre 1963 bis 1989 enthalten.

Unsere Ziele gehen in zwei Richtungen: Zunächst richtet sich unsere Internetseite www.haft-ddr.de an eine interessierte Öffentlichkeit, die sich mit dem Thema „Haft bei der Staatssicherheit“ kritisch auseinandersetzen möchte. Dazu bieten wir verschiedene Datenauswertungen sowie individuelle Erfahrungen von Häftlingen zur Veranschaulichung an. Im Bereich der politischen Bildung kann die Internetseite gut als Vermittlungstool zur Anwendung kommen.

Außerdem wollen wir mit der Datenbank die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Dimensionen politischer Haft auf eine quantitativ und qualitativ hochwertige, vor allem nachvollziehbare Datengrundlage stellen. Je nach Gewichtung und Interpretation können unterschiedliche Fragen beantwortet werden. Das heißt, wir verstehen die Datenbank (sobald sie vollendet ist) als ein Werkzeug für künftige Forschungsprojekte, als fruchtbare Unterstützung einer hoffentlich weiterhin regen Diskussion.

Wie kommt es, dass das zuvor nicht möglich war?

Bisher waren wir auf die Statistiken der Stasi und die offiziellen Kriminalitätsstatistiken angewiesen. Wie diese zustande gekommen sind und was sie zeigen und was sie verschleiern sollten, lässt sich häufig nicht nachvollziehen. Hier schaffen wir Abhilfe, indem wir die Daten selbst erheben und sie nachvollziehbar aufbereiten.

Für die Datenbank gilt zudem, dass wir keine Vorauswahl treffen. Wir nehmen alle Personen auf, die aufgrund der Ermittlungen des MfS ins Gefängnis gekommen sind. Wer sich aus politischen Gründen in Haft bei der DDR-Staatssicherheit befand, kann jeder, der mit den Daten später arbeiten wird, selbst entscheiden und wird je nach Fragestellung, Herangehensweise und Definition zu seinen eigenen Ergebnissen kommen.

Welche Quellen haben Sie für Ihre neuentwickelte Datenbank genutzt?

Die Grundlage unserer Datenbank bildet die sogenannte Beschuldigtenkerblochkartei der Hauptabteilung IX des Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (BArch, MfS HA IX, Nr. 22583), die im Stasi-Unterlagen-Archiv überliefert ist. In dieser Kartei mit insgesamt rund 67.500 Karten sind die Untersuchungsverfahren des MfS der Jahre 1963 bis 1989 in komprimierter Form dokumentiert. Die Informationen liefen in der Berliner Zentrale des MfS aus der ganzen DDR zusammen. Die Karten enthalten sowohl Angaben zur Person als auch zum Ermittlungs- sowie zum Strafverfahren.

Die zweite Quelle unserer Datenbank ist die Zentrale Gefangenenkartei des Ministeriums des Innern (MdI) (BArchB, DO 1 Ministerium des Innern, MdI). Diese Überlieferung umfasst den Zeitraum 1950 bis 1989 und hat einen Umfang von mehr als 800.000 Karteikarten, die neben Angaben zur Person und zum Ergebnis des Strafverfahrens auch Angaben zur tatsächlichen Haftdauer sowie den Haftstationen enthalten.

Mit diesen Quellen ging Ihre Arbeit erst richtig los, oder?

Im Prinzip schon, aber wir haben die Datenerfassung intensiv vorbereitet, beispielsweise verschiedene Texterkennungsverfahren ausprobiert. Im Team haben wir ein Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe wir Daten von der Kartei in die Datenbank übertragen können. Ein nicht ganz einfacher Prozess mit sehr vielen Zwischenschritten, auch Versuch und Irrtum, aber wir haben viel dabei gelernt und waren am Ende erfolgreich.

Darüber hinaus haben wir mit dem Stasi-Unterlagen-Archiv und später dem Bundesarchiv die datenschutzrechtlichen Grundlagen besprochen. Die Datenbank als solche verbleibt beispielsweise in den Räumen des Stasi-Unterlagen-Archivs, die Gedenkstätte Hohenschönhausen erhält nach Projektabschluss eine anonymisierte Version.

Für die Datenbank haben wir dann die Beschuldigtenkerblochkartei des MfS digitalisiert und mit Hilfe einer Texterkennungssoftware ausgelesen. Die Ergebnisse der Texterfassung haben wir einzeln geprüft und anschließend in Datensätze übertragen. Die Angaben der Gefangenenkartei des Ministeriums des Innern zur Haftdauer haben wir für alle von uns aus der Beschuldigtenkerblochkartei erfassten Fälle übertragen, geprüft und in die erstellten Datensätze integriert.

Die Datenbank enthält derzeit rund 51.000 Einträge mit Angaben zur Person (Name, Geschlecht, Geburtsdaten, Wohnort, Staatsbürgerschaft, Beruf, Vorstrafen, Wehrdienst, Parteimitgliedschaft), zum Verfahren (Beschuldigung, Urteil, Strafmaß, Ermittelnde Diensteinheiten, Gerichte) und zur Haft (Haftdauer, Haftorte). Wir haben ausschließlich Personen aufgenommen, die tatsächlich in Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit saßen oder aufgrund eines vom MfS geführten Ermittlungsverfahrens zu einer Haftstrafe verurteilt worden sind und diese nicht auf Bewährung ausgesetzt wurde. Fälle, die ohne Untersuchungshaft erfolgten und keine Strafhaft nach sich zogen, haben wir nicht aufgenommen.

Welches Potenzial hat Ihre Datenbank für die Wissenschaft?

Wie bereits ausgeführt wollen wir unter anderem die Gruppe der durch politische Haft in der DDR Verfolgten erforschen. Die Projektdatenbank bietet dazu eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte wie Berufs- und Erwerbsstatus, demografische Angaben, Vorstrafen, tatsächliche Haftdauer, Freikauf durch die Bundesrepublik, um nur einige zu nennen. Neben soziodemografischen wie auch soziostrukturellen Auswertungen gehören dazu ebenso Untersuchungen zeitlicher und regionaler Konjunkturen und Spezifika im Hinblick auf die sich verändernden Protest- und Widerstandsformen wie auch auf die Repressionsstrategien des Regimes. Auch die Zusammenarbeit des MfS mit anderen DDR-Sicherheitsorganen bzw. anderen Einrichtungen des Staatsapparats bei der politischen Strafverfolgung kann nun anhand unserer Datenbank tiefergehend erforscht werden.

Mit unseren Daten können wir das breite Spektrum der politisch Verfolgten viel besser untersuchen und damit viel klarer erfassen. Wie viele Lehrer, Ärzte, Handwerker, Arbeiter, Rentner hat die Stasi ins Gefängnis gesteckt? Wie lange waren sie tatsächlich in Haft? Inwiefern spiegelt die Gruppe der Häftlinge in Stasi-Haft die Gesamtgesellschaft wider? Ein Blick auf unsere Internetseite www.haft-ddr.de zeigt, dass SED und die Stasi gerade diejenigen verfolgten, für die sie behaupteten besonders zu sorgen: junge Erwachsen und Arbeiter.

Das Potenzial der Datenbank für die Wissenschaft wird auch mit den innerhalb des Projektes entstehenden Dissertationen deutlich, die quantitative mit qualitativen Methoden verbinden. Franziska Richter zeigt dies am Beispiel von ausländischen Untersuchungshäftlingen und Konstantin Neumann am Beispiel von fahnenflüchtigen NVA-Soldaten.

Darüber hinaus ist unser Ziel, in zukünftigen Untersuchungen auch die MfS-Untersuchungshäftlinge von 1950 bis 1962 zu erfassen. Das ist die Zeit, in der die SED die Strafjustiz brutal eingesetzt hat, um ihre Vorstellungen von einem sozialistischen Staat durchzusetzen und um alle tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner auszuschalten. Unternehmer wurden kriminalisiert und enteignet, ebenso Bauern, die sich gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft zur Wehr setzten, Zeugen Jehova, bereits in der NS-Zeit massiv verfolgt, sind erneut Opfer politischer Verfolgung geworden. Auch da spielte die Stasi eine zentrale Rolle.

Und welches Potenzial hat die Internetseite „Haft in der DDR“ für die Öffentlichkeit?

Screenshot Internetseite „Haft in der DDR. Die Gefangenen der Stasi“

Screenshot Internetseite „Haft in der DDR. Die Gefangenen der Stasi“ 

Gedenkstätte Hohenschönhausen

Unsere Internetseite www.haft-ddr.de macht bereits jetzt zentrale Informationen der Forschungsdatenbank öffentlich zugänglich, in anonymisierter Form. Sie ist eine Form der Wissenschaftskommunikation und entspricht dem Ansatz der vom BMBF in den letzten vier Jahren geförderten DDR-Forschungsverbünde, die wissenschaftliche Aufarbeitung und Vermittlung durch Zusammenarbeit von Universitäten, Gedenkstätten, Archiven und Initiativen eng miteinander zu verzahnen. Die Seite richtet sich an die breite Öffentlichkeit und soll besonders für den Schulunterricht und die Gedenkstättenarbeit, aber auch in der universitären Lehre und für wissenschaftliche Recherchen genutzt werden.

Mit der Seite hat jeder die Möglichkeit sich ein eigenes Bild von der Repression zu machen: Wer waren die Inhaftierten? Wie alt waren sie? Wo kommen sie her? Welchen sozialen Hintergrund hatten sie? Die Internetseite ermöglicht individuelle Recherchen, etwa zu bestimmten Personengruppen, nach Regionen, nach Zeitraum, nach Verurteilungsgrund, nach Geschlecht, nach Beruf und so weiter. Ein kurzer Anleitungsfilm erleichtert den Einstieg.

Das Besondere an der Internetseite ist die Verknüpfung von Daten mit Biografien, Videos und Interviews von mehr als 50 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Sie haben uns erlaubt, ihre Geschichten „hinter den Zahlen“ zur politischen Verfolgung in der DDR zu veröffentlichen. Sie zeigen, was Inhaftierung, Willkür, Isolation, psychologischer Druck und Erpressung für sie bedeuten. Www.haft-ddr.de dient damit sowohl der Analyse als auch der Aufarbeitung von Repression.

Ihre Forschung könnte also auch in anderen Kontexten als Vorbild dienen – und, nicht zuletzt, für Betroffene und deren Angehörige hilfreich sein, um besser zu verstehen, wie groß Umfang und Ausmaß der Repression waren. Herzlichen Dank für Ihre Forschungen!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 14. Dezember 2022)

 

Das Projektteam der Gedenkstätte Hohenschönhausen (v.l.n.r): Martin Sobczyk, Michel Kusche, Konstantin Neumann, Dr. Michael Schäbitz, Franziska Richter

Das Projektteam der Gedenkstätte Hohenschönhausen (v.l.n.r): Martin Sobczyk, Michel Kusche, Konstantin Neumann, Dr. Michael Schäbitz, Franziska Richter

Ana Clementina Irimina

Die Internetseite „Haft in der DDR“

Während die Datenbank wissenschaftlichen Zwecken dient, ermöglicht die Internetseite „Haft in der DDR“ in anonymisierter Form vielfältige eigene Recherchen. Nutzerinnen und Nutzer können sich selbstständig auf Entdeckungstour begeben und in den Daten nach eigenen Fragestellungen erkunden (siehe Anleitungsvideo). Das Besondere an der Internetseite: Biografien, Videos, und Interviews von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen die Geschichten „hinter den Zahlen“ zur politischen Verfolgung in der DDR, sie zeigen, was Willkür, Isolation, psychologischer Druck, Erpressung bedeuten. Die Internetseite dient damit sowohl der Analyse als auch der Aufarbeitung von Repression. Weitere Erläuterungen zur Methodik finden Sie hier und Informationen zur Internetseite hier.

Der DDR-Forschungsverbund „Landschaften der Verfolgung“

Der Forschungsverbund „Landschaften der Verfolgung“ ist einer von insgesamt 14 Verbünden, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) auf dem Gebiet der DDR-Forschung (siehe Förderrichtlinie) gefördert werden. Zu den zentralen Zielen des Programms gehören eine stärkere Verankerung der DDR-Forschung an den Hochschulen sowie der Wissenstransfer von Forschungsergebnissen in eine breitere Öffentlichkeit. Der Förderzeitraum dieses Verbunds beträgt insgesamt vier Jahre (2019-2022).

Im BMBF-Forschungsverbund „Landschaften der Verfolgung“ arbeiten folgende Institutionen zusammen: der Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin, die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße, die Robert-Havemann-Gesellschaft, das Menschenrechtszentrum Cottbus, der Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Universität Passau, die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (CBF) an der Charité - Universitätsmedizin Berlin und der Studienschwerpunkt Medienrecht an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina. Das Stasi-Unterlagen-Archiv als Teil des Bundesarchivs ist Kooperationspartner des Verbundes.