Lebensnah: Musterdokumente aus dem Frühmittelalter
Wer denkt, Formulierungshilfen und Textgenerierung seien neue Erfindungen, irrt. Bereits im Frühmittelalter gab es ganze Sammlungen von Mustertexten, etwa für Briefe, Protokolle oder Urkunden. Das Hamburger Akademieprojekt „Formulae – Litterae – Chartae“ erweckt diese frühmittelalterlichen Sammlungen zu neuem Leben.
Haben Sie noch Originaldokumente von Ihren Urgroßeltern? Vielleicht eine Heiratsurkunde, Kaufbelege, Fotos oder Tagebücher? Wahrscheinlich nicht. Denn nach zwei, drei Generationen ist alles Papierne in der Regel verschwunden. Entsprechend gering sind die Überlieferungschancen von Originaldokumenten aus der Zeit vom 6. bis zum 11. Jahrhundert.
„Überliefert sind, wenn überhaupt, Dokumente, die den Kirchenbesitz betreffen. Die Originale frühmittelalterlicher Privaturkunden nördlich der Alpen sind fast gänzlich verloren. Noch viel seltener sind Schriftstücke aus dem Alltagsleben. Was jedoch Jahrhunderte überstanden hat, sind Sammlungen für Mustertexte etwa für Briefe, Protokolle oder Urkunden. Deshalb sind diese Sammlungen für die Erforschung des Frühmittelalters von außergewöhnlicher Bedeutung“, betont Prof. Dr. Philippe Depreux, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg. Er leitet dort seit 2017 das Akademieprojekt Formulae – Litterae – Chartae. Neuedition der frühmittelalterlichen Formulae inklusive der Erschließung von frühmittelalterlichen Briefen und Urkunden im Abendland (ca. 500 – ca. 1000 n. Chr.). Ziel ist die wissenschaftlich-kritische Edition dieser raren Kulturschätze, print und online.
Einzigartige Einblicke in die frühmittelalterliche Lebenswelt
Warum lange an Formulierungen feilen, fragten sich schon die Schreiber im frühmittelalterlichen Westeuropa, wenn es Sammlungen mit Musterdokumenten gibt? Etwa für Briefanfänge oder Schlussformeln, Verkäufe und Schenkungen, Empfehlungsschreiben oder gar Lobeshymnen an die Angebetete? Diese Sammlungen, die sogenannten Formulae, basierten meist auf Abschriften von tatsächlich verwendeten Briefen oder Urkunden, wobei Namen, Orte, Zahlen oder Daten durch anonyme Platzhalter ersetzt wurden.
„Entscheidend für die Aufnahme von Dokumenten in eine Sammlung war ihr praktischer Nutzen. Deshalb finden sich in den „Formulae“ Dokumente des Alltagslebens, die sonst nicht oder nur höchst selten erhalten sind: Schuldscheine und Verkaufsschreiben, Streitschlichtungen sowie Ehescheidungen und vieles mehr. Damit geben sie nie dagewesene Einblicke in die Rechtspraxis und den Alltag des Frühen Mittelalters – und bringen neue Erkenntnisse zur Sozial-, Wirtschafts-, Kultur-, Rechts- und Mentalitätsgeschichte ans Licht. Zugleich bezeugen sie die Bedeutung von Schriftlichkeit und den sprachlichen Wandel von der Spätantike zum Mittelalter, also vom 6. bis zum 11. Jahrhundert.“
Kein Mustertext gleicht dem anderen
Anderes als oft angenommen, waren die Formulae keine starren Vordrucke. „Sie dienten den Schreibern als Anregung. Sie gaben ihnen geeignete Formulierungen an die Hand“, erläutert Depreux an zwei Beispielen: „In einigen Formulae haben wir Anweisungen an den Schreiber, wo gesagt wird, in diesem Fall soll er das schreiben, in jenem Fall soll er jenes schreiben. Das haben Sie im keinem Vordruck. Es gibt auch viele Beispiele für Briefe, mit verschiedenen Möglichkeiten für einen Anfang. Diese Ansammlungen von Beispielen und Anregungen wurden jedoch nicht sklavisch benutzt. Die Formulae wurden immer weiter ausgebaut und aktuellen Geschehnissen und Erfordernissen angepasst. Kein Mustertext gleicht dem anderen. Und diese Veränderungen machen wir in unserer Neuedition der frühmittelalterlichen Formulae wissenschaftlich fundiert nachvollziehbar.“
15.000 Formulae, Urkunden und Briefe aus dem frühen Mittelalter
Ziele des Langzeitvorhabens „Formulae - Litterae – Chartae“ sind die systematische Erschließung dieser Formulae, ihre kritische Edition, Kommentierung und Übersetzung sowie die Erforschung des formelhaften Schreibens. Die Edition erscheint bei den „Monumenta Germaniae Historica“ (MGH), einer Reihe kritischer Editionen historischer Dokumente zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Zudem ist die Neuedition online zugänglich.
Blick in die „Formulae - Litterae – Chartae“ Werkstatt
Ob Formeln, Urkunden oder Briefe – wer Lust hat, in die Welt des Frühmittelalters abzutauchen, findet in der Werkstatt anschauliche Beispiele: Forschende aller Disziplinen aber auch alle Interessierten haben hier die Möglichkeit, die Digitalisate der Manuskripte anzuschauen, sich in die kommentierten Übersetzungen zu vertiefen oder nach bestimmten Themen zu recherchieren. Auch die Suche nach Verbindungen zwischen einzelnen Texten lässt sich erforschen. Wie unterscheiden sich Inhalt, Stil und Sprache? Haben sich bestimmte Begriffe verändert? Oder gibt es noch andere Formulae oder Urkunden zum Thema? All das lässt sich spielend leicht herausfinden. „Das Ziel der Werkstatt war und ist, die Erforschung dieser wichtigen kulturellen, sozialen, rechtlichen und linguistischen Quellen zu fördern und zu vereinfachen“, so Depreux. Und das ist schon jetzt gelungen. Rund 15.000 Formulae, Urkunden und Briefe aus dem frühen Mittelalter sind derzeit online.
Alltägliches verstehen
Auch wenn noch viele Forschungsfragen zu lösen sind, eines steht jetzt schon fest: „Durch die Formulae wird das Mittelalter lebendig. Und wir sehen an der immensen Vielfalt der Formulae, was zu dieser Zeit ganz normale Menschen bewegt hat“, weiß Depreux. „Wir erfahren, wie rechtliche Dinge geregelt wurden, wie Menschen gelebt haben, welche Besitztümer sie hatten. Die Formulae sind voller Leben, sie zeigen, dass die Menschen im Mittelalter ganz normale Menschen waren, mit ganz ähnlichen Themen und Problemen wie wir heute.“
Katrin Schlotter
Das Hamburger Akademieprojekt „Formulae – Litterae – Chartae“
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