Von der Forschung in die Öffentlichkeit: Wissenstransfer des RADIS-Netzwerkes

„Extremismus“, „Radikalisierung“, „Islamismus“ oder „politischer Islam“ sorgen für hitzige Debatten – in der Forschung wie in der Öffentlichkeit. Wie das RADIS-Netzwerk zu einem differenzierten Blick auf Begriffe und Phänomene beiträgt, erfahren Sie hier im Interview mit Sina Tultschinetski. Sie ist Co-Projektleiterin von RADIS am PRIF – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung.

Das Transfervorhaben RADIS, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, vernetzt intern und extern zwölf Forschungsprojekte der BMBF-Förderlinie „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“.

Eine kurze Frage vorab, Frau Tultschinetski: Was gilt es zu beachten, wenn Extremismus und Radikalisierung beforscht werden?

Sina Tultschinetski, Co-Projektleiterin von RADIS in der Forschungsgruppe Radikalisierung am PRIF – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung.

Sina Tultschinetski, Co-Projektleiterin von RADIS in der Forschungsgruppe Radikalisierung am PRIF – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung.

PRIF

Die Erforschung von Extremismus und verwandten Phänomenen wie Radikalisierung oder Terrorismus ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Eine zentrale Herausforderung ergibt sich aus den Debatten darüber, wie bestimmte Kernbegriffe in der Forschung verwendet werden und wirken. Begriffsdebatten sind komplex, weil sie durch unterschiedliche Kontexte und disziplinäre Perspektiven geprägt sind. Einige Begriffe, wie „Extremismus“ und „Radikalisierung“, sind umstritten, und auch viele andere Begriffe, etwa „Islamismus“ oder „politischer Islam“, sind strittig und teils politisch aufgeladen. Alles, was Forschende sagen oder schreiben, kann eine Rückwirkung auf die Gesellschaft haben. Aussagen werden schnell öffentlich und teils medial wirksam aufgegriffen und potenziell instrumentalisiert. Darüber haben Forschende oft keine Kontrolle. Es bleibt eine zentrale Frage, wie Schlüsselbegriffe definiert und verwendet werden können, um Phänomene einerseits angemessen abzubilden und andererseits Stigmatisierungen und Instrumentalisierungen zu vermeiden.

Hinzu kommt, dass die Forschung in diesem Feld emotional herausfordernd und sogar gefährlich werden kann. Insbesondere, da wissenschaftliche Debatten längst Einzug in soziale Medien gefunden haben und persönliche Informationen gleichzeitig leichter denn je auffindbar sind, wird Eigenschutz ein zunehmend wichtiges Thema. Die physische Gefahr ist dabei nur eine Facette, denn die psychische Belastung, die mit der intensiven Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten, mit radikalem Gedankengut oder extremen audio-visuellen Inhalten einhergeht, darf ebenso nicht unterschätzt werden. Auch im Hinblick auf die Einhaltung forschungsethischer Standards und die Gewährleistung der Sicherheit von Befragten zeigen sich Herausforderungen.

Herausforderungen, die Sie beim Transfer der RADIS-Forschungen in die Fach-/Öffentlichkeit thematisieren. Ein Beispiel ist die RADIS-Ringvorlesung „Islamismus in Deutschland und Europa: Gesellschaftlicher Umgang mit Ursachen und Wirkungen“, die im Sommersemester 2023 und Wintersemester 2023/24 stattfand. Was konnten Sie erreichen?

Im Rahmen unserer Ringvorlesung präsentierten die Projekte des RADIS-Netzwerks einige (Zwischen-)Ergebnisse ihrer Forschung. Die Veranstaltungen fanden an der Goethe-Universität Frankfurt, an der RWTH Aachen, an der Universität Leipzig und an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg statt. Damit konnten wir dazu beitragen, die Forschung des RADIS-Netzwerks einem breiten Publikum aus Studierenden, Hochschulmitarbeitenden und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Vorlesungen in Frankfurt und Leipzig wurden live gestreamt, konnten daher auch über die Standorte hinaus verfolgt werden und sind online abrufbar.

Auch mit der RADIS Blogserie greifen Sie aktuelle Debatten auf. Welche Fachthemen stehen im Fokus?

In der RADIS-Blogserie diskutieren Expertinnen und Experten des RADIS-Forschungsnetzwerks zentrale Fragen rund um Islamismus in Deutschland und zeigen aktuelle Dynamiken und Komplexitäten des Phänomens auf. Themenfelder, die in der Blogserie in Fokus stehen, sind, erstens, Islamistische Radikalisierung, Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus in Deutschland und ihre Auswirkungen auf gesellschaftliche Polarisierung, zweitens, Jugendliche, ihr Krisenerleben und Bewältigungsstrategien im Zusammenhang mit Radikalisierungspotenzialen sowie die besondere Rolle von Schulen in der Prävention und, drittens, die Herausforderungen für Forschende, die sich im Spannungsfeld zwischen Begriffsdebatten, methodischen Fragen, ethischer Verantwortung und persönlicher Sicherheit bewegen.

Und wie ist die Resonanz auf den Blog?

Die Blogserie erscheint auf dem vielfach rezipierten PRIF-Blog und erreicht damit ein breites Fachpublikum, das sich für Fragen rund um Frieden und Konflikte interessiert. Die bisher erschienenen Beiträge wurden bis dato insgesamt bereits über 700 Mal gelesen. Die Beiträge beziehen sich teils aufeinander bzw. beleuchten ähnliche Fragen aus verschiedenen Perspektiven. Die Blogserie dient damit auch als Plattform für Debatten im Themenfeld.

Ein weiteres Transferformat ist der Podcast „RADIS redet“. Auch hier nimmt RADIS aktuelle Diskurse unter die Lupe, wie zum Beispiel im Podcast: "Nahostkonflikt: Polarisierter Diskurs zwischen Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit". Was ist Ihr Kernanliegen?  

Mit dem Podcast beleuchten wir die Arbeit der Forschenden im Kontext von wichtigen gesellschaftlichen Fragen. Dabei geht es uns zum einen um neue Erkenntnisse zu Islamismus und dessen Prävention. Wir bringen Menschen aus der Praxis in Austausch mit den Forschenden. Wie viele Projekte aus der Förderlinie thematisieren wir außerdem, wie der Umgang mit Islamismus auf die Gesellschaft zurückwirkt. Dabei nehmen wir politisches Handeln ebenso in den Blick, wie mediale Dynamiken oder die Wahrnehmungen von Individuen.

Was kann die Forschung leisten, um Polarisierung entgegenzuwirken?

Es gibt in der Förderlinie sicherlich ganz unterschiedliche Ansichten dazu, wie Forschung einer Polarisierung entgegenwirken kann. Viele der Forschenden betonen aber, dass die Wissenschaften zu einem differenzierten und sachlichen Blick beitragen können. Gerade bei einem so umkämpften Thema wie Islamismus ist es immer wieder wichtig, einen Schritt zurückzutreten und zu hinterfragen, was beispielsweise die Nutzung bestimmter Begriffe bewirkt. Hier leisten die Forschenden wichtige Arbeit. Diese Arbeit wirkt in verschiedene gesellschaftliche Räume hinein, beispielsweise in den Bildungsbereich. Unsere Webtalkreihe „Schule - Radikalisierung - Prävention: Dialog zwischen Praxis und Forschung“, die sich explizit an Schulangehörige richtet, ist ein gelungenes Beispiel für die Vernetzungs- und Transferarbeit von RADIS. Aktuelle Ergebnisse der Islamismus- und Radikalisierungsforschung stellen wir ebenso vor, wie Ansätze aus der politischen Bildung oder Modellprojekte der Präventionsarbeit im Bildungssektor. Auch hier haben wir einen Raum für den Austausch geschaffen, um gemeinsam erfolgversprechende Ansätze zu entwickeln.

Herzlichen Dank für Ihre interessanten Antworten, Frau Tultschinetski

(Das Interview erfolgte schriftlich am 6. März 2024, Fragen: Katrin Schlotter)

Das Transfervorhaben RADIS

Das Transfervorhaben RADIS, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, vernetzt intern und extern zwölf Forschungsprojekte der BMBF-Förderlinie „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ und unterstützt die Forschungsprojekte bei der Identifizierung übergreifender Fragen, Herausforderungen und Thesen, die die großen Themen der gesamten Förderlinie abbilden.

Laufzeit: 11/2020 - 10/2025

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