Tief verwurzelt: Ortsnamen zwischen Rhein und Elbe

Ortsnamen sind sprachliche und historische Quellen von einzigartigem Wert, sie bewahren Worte und Namen aus längst vergangenen Zeiten. Und doch werden sie erst nach und nach erschlossen. Mit dem Akademieprojekt „Ortsnamen zwischen Rhein und Elbe – Onomastik im europäischen Raum“ setzt sich ein neues Bild der Siedlungs- und Sprachgeschichte zusammen.

Arbeitsstellenleiterin Dr. Kirstin Casemir

Arbeitsstellenleiterin Dr. Kirstin Casemir

Uwe Ohainski

„Die Menschen möchten gern wissen, was ihr Ortsname bedeutet. Je globaler die Welt wird, desto wichtiger wird die eigene Verortung“, davon ist Dr. Kirstin Casemir, Arbeitsstellenleiterin des Projekts der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, überzeugt. Die Ortsnamenforschung oder Onomastik war schon vor gut dreißig Jahren ihr Steckenpferd. Bereits während ihres Studiums der Indogermanistik in Göttingen faszinierten sie die sprachlichen Wurzeln der Ortsnamen. Im vierten Semester lernte Casemir den Namenforscher Jürgen Udolph kennen – zusammen mit einigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern erstellten sie in Feierabendarbeit die ersten Bände zu den Ortsnamen in Niedersachsen. Prof. Dr. Udolph war es auch, der das Akademieprojekt initiierte und bis heute leitet. Kürzlich feierte der bekannte Namenforscher seinen 80. Geburtstag.

Alte Urkunden – neue Einblicke

Seit 2005 bearbeitet das Akademieprojekt die Ortsnamen Nordwestdeutschlands, genauer gesagt, die Ortsnamen der Gebiete Bremen, Niedersachsen und Westfalen. Die Forschenden analysieren dafür erstmals sämtliche Siedlungsnamen, die vor dem Jahr 1600 in schriftlichen Quellen bezeugt sind, etwa in Urkunden, Lehnregistern, Rechnungen oder Karten. Auch die Siedlungsnamen, die es seit dem Mittelalter nicht mehr gibt – und das sind je nach Region bis zu 40 Prozent – fließen in die Analyse ein.

„Viele dieser urkundlichen Quellen wurden etwa seit dem 19. Jahrhundert von Städten oder Klöstern zusammengetragen –  zum Glück. Denn die gesammelten Nachweise der historischen Namenschreibungen zeigen, wie die Namen überliefert wurden“, erläutert Casemir. „Sie dienen uns als Grundlage für ihre etymologische Bearbeitung. Die Untersuchung der Ortsnamen erfolgt auf Landkreisebene – und die Ergebnisse publizieren wir fortlaufend in einzelnen Ortsnamenbüchern.“

Bei dem Akademieprojekt geht es also um weit mehr als nur um einzelne Ortsnamen. „Erst wenn die Ortsnamen eines größeren Gebiets namenkundlich untersucht werden, können wir die ursprüngliche Bedeutung eines einzelnen Namens in seinen Grundzügen erfassen. Die richtige Deutung der Ortsnamen ist die unabdingbare Voraussetzung für deren Auswertung zum Beispiel für die Siedlungsgeschichte“, erklärt die Sprachwissenschaftlerin.

Die Untersuchung der Ortsnamen Westfalens, Niedersachsens und Bremens ist für die Vor- und Frühgeschichte Europas von besonderer Bedeutung: „Dieses Territorium wurde bisher nicht untersucht. Und das, obwohl es mit benachbarten deutschen Regionen (wie dem Rheinland, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Hessen) in engstem Kontakt steht. Auch die historischen Beziehungen zu angrenzenden Räumen wie den Benelux-Staaten, England, Skandinavien, Polen oder dem Baltikum können nun ermittelt werden“, erklärt Casemir. „Vieles spricht dafür, dass die Besiedler Englands nicht, wie lange angenommen, aus Schleswig-Holstein, sondern aus Niedersachsen kommen. Ortsnamen scheren sich nicht um Ländergrenzen.“

Worte wandern, Orte nicht

Ausschnitt einer Karte des Niedersächsischen Reichskreises aus der Werkstatt von Johann Baptist Homan in Nürnberg, 1788

Ausschnitt einer Karte des Niedersächsischen Reichskreises aus der Werkstatt von Johann Baptist Homan in Nürnberg, 1788

gemeinfrei

Viele Ortsnamen sind schon sehr alt, mehrere Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende. Sie beschreiben etwa die charakteristische Lage, Gestalt oder Beschaffenheit einer Siedlungsstelle oder geben – in Verbindung mit Personennamen – Auskunft über frühe Bewohner (siehe Beispiele). „Jeder vergibt Namen mit den Mitteln seiner Sprache. Während einzelne Wörter der gesprochenen Sprache im Lauf der Jahrhunderte auch aussterben können, bleiben sie in Ortsnamen erhalten. Birkenhausen heißt noch heute so, auch wenn die Birke längst nicht mehr steht. Ortsnamen sind träge. Worte wandern, Orte nicht. Das ist wirklich spannend“, betont Casemir. Ortsnamen zeigen, was für die Menschen damals wichtig oder markant war. Und das sogar in einer Sprache, die es hierzulande nicht oder nicht mehr gibt (siehe Beispiel „missing link“). „Daraus können wir viel lernen: Entgegen der landläufigen Meinung haben die geografischen Namen hier einen germanischen, niederdeutschen und keinen lateinischen oder gar keltischen Ursprung. Vielmehr stehen die Namen Westfalens, Bremens und Niedersachsens in Beziehung zu europäischen Nachbarländern, vor allem zu England, den skandinavischen Ländern und dem östlichen Mitteleuropa.“

Gedruckte und digitale Ortsnamenbücher

Band zu den Ortsnamen der Stadt Braunschweig

Band zu den Ortsnamen der Stadt Braunschweig

Uwe Ohainski/Verlag für Regionalgeschichte

All das erklären die Forschenden anhand der urkundlichen Belege in den Ortsnamenbüchern: Dort werden die Namen sowohl bestehender als auch untergegangener Siedlungen im heutigen Kreisgebiet in alphabetischer Reihenfolge erläutert. Angefangen von der ersten schriftlichen Erwähnung bis zur heutigen Namenform, sprachwissenschaftlich genauestens ausgewertet. „Mit jedem neuen Beleg kann es zu Neudeutungen kommen. Wir berücksichtigen aber auch Deutungen anderer Forschenden und korrigieren sie wenn nötig unter Angabe von Gründen“, so Casemir. Sie hebt hervor: „Mit jedem Ortsnamenband steht ein Kompendium zur Verfügung, das außer den Namendeutungen auch Beobachtungen zu den Namentypen, ihren Bildungsweisen und lautlichen Veränderungen anhand der mitgeteilten Belegreihen nachvollziehbar macht.“

Seit 2022 ist das Westfälisches Ortsnamenbuch bereits mit Band 20 abgeschlossen, das auf 28 Bände angelegte Niedersächsische Ortsnamenbuch ist noch in Bearbeitung. Nach Ablauf einer Sperrfrist von drei Jahren sind die Bände auch digital verfügbar auf res doctae, der Plattform der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Zudem gibt es eine ganze Reihe projektbezogener Bücher und Aufsätze.

30.000 Ortsnamen bis Projektende

Kaiserurkunde von 1022

Kaiserurkunde von 1022, die als Abschrift aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert in der „Vita Bernwardi“ erhalten ist. Diese Urkunde ist eine wichtige Quelle für die Ortsnamenforschung, da dort zahlreiche Namen genannt werden.

Niedersächsisches Landesarchiv Hannover Ms Nr. 92 pag. 125

„Bis zum Projektende im Jahr 2029 wollen wir rund 30.000 Ortsnamen bearbeiten“, sagt Casemir. Auf dieser Grundlage folgt, zu guter Letzt, eine zusammenfassende Auswertung der Siedlungsgeschichte der drei Länder Westfalen, Bremen und Niedersachsen. „Wir erhoffen uns noch viele weitere Antworten auf bislang offene Fragen zu Siedlungsbewegungen und zu sehr alten Siedlungsräumen“, betont Casemir. „Zugleich können wir auf Basis unserer flächendeckenden Forschungen Unterschiede innerhalb eines Großraumes erkennen, sowohl onomastisch wie dialektgeografisch. So lassen sich historische Lautwandelprozesse präzise zeitlich und räumlich nachverfolgen“, erläutert sie weiter. All diese Ergebnisse können für weitere Forschungen überaus hilfreich sein, für die historische Geografie und Siedlungsgeschichte, die Archäologie, Sprach- und Kulturgeschichte sowie die Sozial-, Agrar-, Herrschafts- oder Wirtschaftsgeschichte, um nur einige zu nennen.

Doch auch jenseits der Wissenschaft ist das Projekt für die Öffentlichkeit interessant: Dank der Ortsnamenbücher, die übrigens mit rund 40 Euro erschwinglich sind, können sich Interessierte wissenschaftlich fundiert über die Herkunft und Bedeutung ihres Ortsnamens informieren, bekommen Zugang zur Geschichte ihres Ortes – und fühlen sich dort verortet.

Abbildung von Claudia Maria Korsmeier

Claudia Maria Korsmeier

Verschiedene Arbeitsmaterialien

Verschiedene Arbeitsmaterialien

Claudia Maria Korsmeier

Ausschnitt aus einer 1767 von Johann Daniel Gerlach angefertigten Karte des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel

Ausschnitt aus einer 1767 von Johann Daniel Gerlach angefertigten Karte des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel

Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel Kartensammlung K 3 Bl. 3

Ortsnamen zwischen Rhein und Elbe – Onomastik im europäischen Raum

Das Projekt der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen erfasst sämtliche ältere Ortsnamen des Bundeslandes Bremen, des Bundeslandes Niedersachsen sowie des westfälisch-lippischenTeils des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Es stellt die historische Überlieferung zusammen, präsentiert in der bisherigen Forschung vorgenommene Namenerklärungen und legt eigene Deutungen vor. Fortlaufend publiziert werden die Ergebnisse in ca. 50 Einzelbänden, meist die Namen eines Kreises jeweils in einem eigenen Band (siehe weitere Projektziele). Grundsätzlich wird dabei eine auch für interessierte Laien verständliche Darstellung angestrebt.

Projektleitung: Prof. Dr. Jürgen Udolph

Arbeitsstellenleiterin Dr. Kirstin Casemir

Laufzeit 2005 bis 2029

Die „Niedersächsische Akademie der Wissenschaften zu Göttingen“

Die „Niedersächsische Akademie der Wissenschaften zu Göttingen“, bis Dezember 2022 bekannt als „Akademie der Wissenschaften zu Göttingen“, betreut derzeit im Akademienprogramm 18 Langzeitforschungsprojekte mit 24 Arbeitsstellen in zehn Bundesländern und hat insgesamt rund 200 Beschäftigte. Damit ist sie die größte Einrichtung der geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung Norddeutschlands. Als Gelehrtengesellschaft vereint sie rund 350 herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Fachrichtungen weltweit. Bis heute zählen 74 Nobelpreisträger zu ihren Mitgliedern.

Was ist Onomastik?

Die Onomastik ist eine Disziplin, die in vielfältiger Weise mit anderen Wissenschaftszweigen verknüpft ist. Ihre Ergebnisse werden u. a. aufgegriffen und weiterverwertet in folgenden Wissenschaftsbereichen: historische Geografie und Siedlungsgeschichte, Siedlungsarchäologie, Stammes- und Volksgeschichte, Sprach- und Kulturgeschichte, Historische Volkskunde, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Agrar- und Stadtgeschichte, Verfassungs-, Herrschafts- und Territorialgeschichte, Kirchengeschichte und Personengeschichte.

„Missing link“

In Skandinavien finden sich viele Ortsnamen, die mit -lösa, -løse gebildet sind, ebenso in England, dort als -lees, -lease. Die Forschung ist sich einig, dass hier englisch leasow ‘Wiese, Weide’, aus altenglisch læs, læswe ‘Weide’ vorliegt, das wiederum direkt verwandt ist mit dem slavischen lĕs ‘Wald’. Das Wort selbst ist im Skandinavischen nicht belegt, ebenso wenig im Deutschen. Die Brücke zwischen dem slavischen Raum und England bilden niedersächsische, westfälische (und niederländische) Ortsnamen, wie Lesse, Stadt Salzgitter, Leeseringen, Kreis Nienburg, Lastrup bei Cloppenburg usw. Sie stellen das „missing link“ dar.

Übersichtskarte Wolfenbüttel und Salzgitter

Übersichtskarte Wolfenbüttel und Salzgitter

Kirstin Casemir/Ortsnamen zwischen Rhein und Elbe

Ortsnamen – stabil und doch variabel

Ortsnamen haben eine identifizierende Funktion und sind somit stabil. Andererseits sind sie Teil der gesprochenen Sprache und verändern sich. Der heutige Name ist meist der Endpunkt einer längeren lautlichen Entwicklung und eine Deutung kann nicht von ihm ausgehen. Vielmehr sind die älteren Namenformen heranzuziehen und die Überlieferung über die Jahrhunderte zu betrachten. Ein Beispiel: Der Ort Sierße im Kreis Peine ist 1141 als Sigehardishusen belegt. Da das -g- im Niederdeutschen wie -j- ausgesprochen wird und -husen gerade bei längeren Namen früh seine erste Silbe verliert, entsteht Sijhardessen. Der Hauchlaut -h- schwindet und das -a- ist als Vokal in der zweiten Silbe nur wenig betont, so dass Sierdessen entsteht. Das zweite -e- ist ebenfalls unbetont und fällt aus (Sirtzen), die Lautkombination -rtz- wird „vereinfacht“ und das auslautende -n- fällt aus – der heutige Name Sierße ist entstanden; aus einem sechssilbigen Namen wird ein Zweisilbler.

Ortsnamenspiel, das anlässlich der Nacht des Wissens in Göttingen entwickelt wurde

Ortsnamenspiel, das anlässlich der Nacht des Wissens in Göttingen entwickelt wurde

Kirstin Casemir

Hannover

(1193 das erste Mal schriftlich erwähnt) = (Siedlung) am hohen Ufer

Leer

(um 800 das erste Mal schriftlich erwähnt) = (Siedlung) am lichten Wald (das Wort lâr kennt das Deutsche selbst nicht mehr, es ist aber in recht vielen Namen wie Wetzlar, Fritzlar enthalten und in Leer eben auch)

Verden

(das erste Mal 782 schriftlich erwähnt) = (Siedlung) an einer Furt (gemeint ist hier eine Furt durch die Aller)

Wolfenbüttel

(1118 erstmals schriftlich erwähnt als Wlferesbutle) = Siedlung eines Wulfheri (das Wlf ist zu lesen als Wulf), wobei die in Ortsnamen genannten Personennamen in aller Regel nicht mit einer bestimmten historisch überlieferten oder bekannten Person zu identifizieren sind.

Sierse

Ein Beispiel für die häufig vorkommende starke Verkürzung ist das Örtchen Sierße im Kreis Peine. Es ist 1141 (wenn auch nur in einer späteren Abschrift der Urkunde) als Siegehardishusen belegt. Durch Minderbetonung wird der Name zu Sigerdessen, da das -g- wie -j- gesprochen wird, dann zu Sihardessen, durch Ausfall des Hauchlautes -h- und Minderbetonung des -a- zu Sierdessen, weiteren Verlust des zweiten unbetonten -e- zu Sirtzen, und schließlich zu Sierse/Sierße.