Nachgefragt: Welchen Beitrag kann die Forschung zur Bekämpfung des Antisemitismus leisten?

2.480 antisemitische Vorfälle im Jahr 2022 hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) e. V. erfasst. Das sind knapp sieben Vorfälle pro Tag. Antisemitismus in Deutschland bleibt auf einem hohen Niveau. Wie kann die Forschung dagegen angehen?

Prof. Dr. Jan Weyand

Professor Dr. Jan Weyand, Professor am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Antisemitismusforschung. Er gehört dem Wissenschaftlichen Beirat der BMBF-Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus“ (2021) an, der die Förderlinie begleitet und den geförderten Projekten bei Bedarf fachlich zur Seite steht. © privat

privat

Weniger Vorfälle – mehr Gewalt: RIAS dokumentierte für das vergangene Jahr 2.480 Einzelfälle, nach 2.738 im Jahr zuvor. In 2022 gab es neun Vorfälle extremer Gewalt, also potentiell tödlicher oder schwerer Gewalttaten – ein Höchststand seit Beginn der bundesweiten Erfassung 2017. Und das sind nur zwei Eckpunkte des Jahresberichts 2022, den RIAS am 26. Juni 2023 veröffentlicht hat.

Von Ressentiments über Anfeindungen bis hin zu blanker Gewalt – Antisemitismus gefährdet Menschen jüdischen Glaubens und jüdisches Leben in Deutschland und Europa. Und er bedroht die Demokratie, den gesellschaftlichen Frieden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit der BMBF-Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus“, die am 7. April 2020 veröffentlicht wurde, fördert das BMBF die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus. Derzeit arbeiten zehn Forschungsverbünde und ein Begleitvorhaben über vier Jahre an der Thematik. Ihre ersten Forschungsergebnisse bildeten die Grundlage der BMBF Statustagung zur Antisemitismusforschung am 23. Mai 2023 in Berlin.

Ein wichtiges Ziel der BMBF-Tagung war, erste bisher gewonnene Erkenntnisse der geförderten Projekte der BMBF-Förderlinie in größerem Kontext zu diskutieren und in die Praxis und in die Gesellschaft zu vermitteln. Die Diskussion darüber, wie Forschung dazu beitragen kann, Antisemitismus besser zu verstehen und in der Praxis damit umzugehen, führen wir hier auf dem Portal für die Geistes- und Sozialwissenschaften fort.
Mehr dazu lesen Sie im Interview mit Professor Dr. Jan Weyand vom Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg, der dem Wissenschaftlichen Beirat der BMBF-Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus“ (seit 2021) angehört.

Herr Professor Weyand, wie blicken Sie derzeit auf die Förderlinie und wie bewerten Sie die Tagung? Gab es Erkenntnisse oder Momente, die Ihnen besonders aufgefallen sind?

Die Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus“ ist wirklich gut angelaufen, die Forschungen in den einzelnen Projekten sind in vollem Gang und wir dürfen auf die Ergebnisse gespannt sein. Ich denke hier beispielhaft etwa an die Projekte zum Umgang mit Antisemitismus in der Justiz und zum Antisemitismus im Bildungsbereich, insbesondere in der Schulbildung. Beides ist sehr wichtig, weil Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, die zuständig sind für den rechtsförmigen Umgang mit Antisemitismus, diesen nur verfolgen können, wenn sie auch wissen, was darunter zu verstehen ist. Eine Aufgabe der Forschung besteht darin, genau das zu untersuchen, um so ein Bild zu bekommen und gegebenenfalls „nachsteuern“ zu können. Antisemitische Darstellungen in schulischen Lehrmaterialen sind besonders problematisch, weil sie die nachwachsende Generation mit solchen Bildern unter dem Siegel etablierter und legitimer Bildungspolitik versorgen.

Ein Ziel der Tagung war, den Forschenden aus den einzelnen Projekten Gelegenheit zum Austausch zu geben, erste Ergebnisse, aber auch im Forschungsprozess auftretende Schwierigkeiten miteinander zu besprechen und sich noch besser zu vernetzen. Aus diesem Grund hatte die Tagung einen internen, mehr wissenschaftlich ausgerichteten, und einen öffentlichen, mehr politisch ausgerichteten Teil, in dem unter anderen auch die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, sprachen.

In diesem Zusammenhang möchte ich ein in meinen Augen wirklich gelungenes Veranstaltungsformat hervorheben. Ministerinnen und Minister oder Präsidentinnen und Präsidenten haben oft sehr wenig Zeit. Damit sie sich trotzdem ein Bild von der Förderlinie machen können, haben sich einzelne Projekte in einer Art „Wissenschafts-Speed-Dating“ mit ihrem Fragestellungen, Untersuchungsmethoden und auch ersten Ergebnissen kurz, das heißt mit einer maximalen Redezeit von drei Minuten pro Person, vorgestellt. Das ist ein Format, mit dem Forschende naturgemäß etwas hadern, weil wissenschaftliche Studien von Differenzierungen leben und drei Minuten dies kaum zulassen. Trotzdem hat die Sache wunderbar geklappt, die Vorstellung war ausgesprochen informativ. Vor allem war es ein Format, dass es auch Menschen, die nicht mit Details der Antisemitismusforschung vertraut sind, ermöglicht hat, zu verstehen, wozu geforscht wird und warum das wichtig ist.

Was kann Forschung auch zukünftig gegen Antisemitismus tun? Wo gibt es – auch voraussichtlich nach Ende der BMBF-Förderung – Wissenslücken, die unbedingt geschlossen werden müssen?

Die Frage, inwiefern die Antisemitismusforschung selbst einen politischen Auftrag hat oder nicht, und wenn sie ihn hat, welchen Umfang er hat, ist sicher eine der Fragen, die die Antisemitismusforschung auch zukünftig beschäftigen wird.

Ich will das an einem Beispiel erläutern: Im Antisemitismus der Gegenwart spielt der Antisemitismus gegen Israel eine herausgehobene Rolle. Und in der Untersuchung dieses Antisemitismus wie in der öffentlichen Debatte darum ist die Antwort auf die Frage wichtig, wo legitime Israelkritik aufhört und wo Antisemitismus beginnt. In der Gegenwart wird versucht, diese Frage mit Hilfe von Definitionen zu beantworten. Das Blöde an der Sache ist, dass es unterschiedliche wissenschaftliche Definitionen gibt, zum Beispiel die sogenannte Jerusalem-Declaration oder die IHRA-Definition (die Definition von Antisemitismus durch die International Holocaust Remembrance Alliance), die sich vor allem in der Antwort auf die Frage unterscheiden, wo legitime Israelkritik aufhört und Antisemitismus beginnt. Dieser Punkt ist wichtig, nicht nur für das Selbstverständnis der Antisemitismusforschung, sondern auch für das Verständnis der Unterscheidung von Israelkritik und Antisemitismus.

Eine weitere Forschungsaufgabe von erheblicher Bedeutung ist eine präzisere Bestimmung der Beziehung von Rassismus und Antisemitismus. Auch dieser Punkt hat einen deutlichen politischen Bezug: Die Einordnung von Antisemitismus in eine Geschichte des Rassismus wird insbesondere von Theoretikerinnen und Theoretikern des so genannten Postkolonialismus vorgenommen und ist im Resultat nicht selten mit scharfer und manchmal auch antisemitischer Israelkritik verbunden. Zu diesen beiden stärker unter theoretischen Gesichtspunkten spannenden Fragen kommen sicher noch eine Reihe von anwendungsbezogenen Fragen, wie ich sie oben schon beispielhaft genannt habe. Der Forschungsbedarf etwa zum Umgang mit Antisemitismus in Strafverfolgungsbehörden und Bildungseinrichtungen wird mit der Förderlinie kaum abgeschlossen sein.

Vielen Dank für Ihre Einschätzung, lieber Herr Professor Weyand!


(Das Interview erfolgte schriftlich am 23. Juni 2023, Fragen: Katrin Schlotter)